Blankvers

Der Name Christopher Marlowe ist untrennbar mit einer bestimmten metrischen Erscheinungsform verbunden, dem Blankvers. Marlowe hat ihn weder wiederentdeckt, noch in die englische Dichtung eingeführt und erst recht nicht erfunden. Was er jedoch getan hat, war dieses Metrum zu perfektionieren und zu etablieren.

Der Blankvers ist ein reimloser iambischer Pentameter. Als Vers bezeichnet man den Teil einer gebundenen Rede, der durch einen bestimmten metrischen Rhythmus gegliedert ist. Als Beispiel dient der Beginn von Marlowes wohl berühmtesten Monolog.

Die Wortanzahl in jeder Zeile ist unterschiedlich, die Anzahl der Silben ist jedoch immer dieselbe. Durch die Betonung der Silben lässt sich der Rhythmus feststellen. Wenn sich wie im vorliegenden Fall unbetonte und betonte Silben regelmäßig abwechseln, spricht man von einem Jambus. Er besteht aus einer Senkung (ᴗ) und einer Hebung (–). In einem jambischen Vers folgt nun auf jede Senkung eine Hebung und auf jede Hebung eine Senkung. Das jambische Schema des Monologs sieht so aus. ᴗ – ᴗ – ᴗ – ᴗ – ᴗ –
Pro Zeile gibt es fünf Senkungen und fünf Hebungen. Der Vers besteht demnach aus fünf Versfüßen, er ist also fünfgliedrig, oder wie die antiken Griechen gesagt haben "pentamer". Der eigentliche Pentameter ist jedoch ein sechshebiger Vers mit einem Einschnitt (Zäsur) nach der dritten Hebung, der aus zweimal 2 ½ Daktylen (– ᴗ ᴗ) besteht. Das Schema – ᴗ ᴗ – ᴗ ᴗ – // – ᴗ ᴗ – ᴗ ᴗ unterscheidet sich wesentlich von dem des Blankverses, weshalb es wichtig ist, stets von einem jambischen Pentameter zu sprechen. Jede Zeile des Monologs endet mit einer Hebung, also einer betonten Silbe. Man bezeichnet dies als männlichen Verschluss, oder männliche Kadenz. Der Blankvers kann aber ebenso über eine weibliche Kadenz verfügen, dann hat er jedoch eine ungerade Silbenzahl.

Erstmals trat der Blankvers in der antiken griechischen und römischen Dichtung auf. Sie kannte keine Reime. Im Mittelalter waren gerade diese von großer Wichtigkeit und der Blankvers fand kaum Verwendung. Wo er auftrat, geschah dies nicht in einer bewussten Nachahmung der antiken Dichtung. Die Lyriker der beginnenden Neuzeit konnten auf zahlreiche mittelalterliche Vorbilder verweisen. Schriftsteller, die sich anderen Textgattungen widmeten, war dies nicht möglich. Sie richteten ihr Augenmerk auf die Antike.1
Francesco Maria Molza griff 1514 den Elfsilber mit unbetontem Versschluss für seine Übersetzung der Aeneis wieder auf, wodurch die italienischen Humanisten auf das Metrum aufmerksam wurden. Annibal Caros Übersetzung desselben Epos (posthum 1581) etablierte den Blankvers endgültig. Schon bald nach seiner geglückten Wiedereinführung kam er mit dem Theater in Berührung. Gian Giorgio Trissino verwendete ihn 1515 für seine Tragödie Sofonisba.2 Seinen Namen verdankt er Giovanni Rucellai, der erstmal vom "verso sciolto" (ungezwungener Vers) sprach. Henry Howard, Earl of Surrey, der nicht nur das Sonett in die englische Literatur einführte, sondern auch eine Reihe anderer Errungenschaften der italienischen Renaissanceliteratur, brachte den "verso sciolto" nach England. Surrey übersetzte das zweite und vierte Buch der Aeneis ins Englische, wobei er sich auf die italienischen Übersetzungen von Hippolito de' Medici und Bartolomeo Piccolomini stützte, die ebenfalls den Blankvers verwendet hatten. Dabei ist interessant, dass sich der Vers vorerst nicht bei den englischen Epen durchsetzte, sondern zum Theater ging. Dort verwendeten ihn 1561 erstmals Thomas Sackville, Lord Buckhurst und Thomas Norton für Gorboduc. Tamburlaine 1 war das erste Theaterstück in Blankversen, das in England ein großes Publikum erreichte. Die Bezeichnung "blank verse" verdankt er seit 1589 Thomas Nashe und seiner Vorrede zu Robert Greenes Menaphon. Dank Marlowe ist der Blankvers eine Konstante der englischen Literaturgeschichte. Nachdem er eine Zeit lang missachtet worden war, verhalf John Milton ihm 1667 mit Paradise Lost zu neuem Glanz und etablierte ihn damit auch in der Epik. Heute ist er das bedeutendste Metrum im Englischen.3

Marlowes Blankvers ist sehr regelmäßig gebaut.

"[…] durchgehender Auftakt und stumpfe Ausgänge, Übergreifen in verhältnismäßig engen Grenzen, Wechsel von Rede und Gegenrede meist am Versende."4

Die große Ausnahme ist Schlussmonolog in Doctor Faustus. Nie wieder wird Marlowe mit dem Vers so frei umgehen, wie an dieser Stelle.


Elwert, Wilhelm Theodor. 1984. Italienische Metrik. 2nd ed. Wiesbaden: Steiner.
Hobsbaum, Philip. 1999. Metre, Rhythm and Verse Form. 3rd ed. The New Critical Idiom. London: Routledge.
Petronio, Giuseppe. 1992. Geschichte der Italienischen Literatur 1: Von den Anfängen bis zur Renaissance. Gestraffte und aktualisierte Ausgabe. Vol. 1698. UTB. Tübingen: Francke.
Raith, Josef. 1962. Englische Metrik. München: Hueber.

  1. Petronio (1992)↩︎
  2. Elwert (1984)↩︎
  3. Hobsbaum (1999)↩︎
  4. Raith (1962), 61↩︎

Aktualisiert am 18.01.2023

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