Englands Hauptstadt gelangte erstmals während der Renaissance zu wirklicher Größe. Hier liefen alle politischen, geistigen und politischen Fäden zusammen. In finanzieller Hinsicht profitierte die Stadt sowohl vom Fall Antwerpens 1585 als auch vom wirtschaftlichen Niedergang Genuas und Venedigs.1 In der frühen Tudorzeit begann bereits der vermehrte Zuzug nach London. Zwischen 1550 und 1600 wuchs die englische Bevölkerung von 3 Millionen auf über 4 Millionen an. Innerhalb von fünfzig Jahren stieg die Einwohnerzahl Londons auf 200.000.2 Obwohl man die tatsächliche Zahl nur schätzen kann, da viele Menschen zur Untermiete in Kellern, oder Dachstühlen wohnten, wo sich nicht selten mehrere Personen ein Zimmer teilen mussten. Die zunehmende Überbevölkerung beschäftigte sogar die Königin, die mit nicht sehr wirkungsvollen Vorschriften Abhilfe schaffen wollte.3 Doch nicht nur verarmte Bauern, Bettler und Vagabunden zog es nach London. Der wahre Gentleman und sein mitunter zahlreiches Gefolge, empfand es barbarisch auf dem Lande wohnen zu müssen. Allerdings hatte die Metropole selbst damals noch einen recht ländlichen Charakter, den sie bis ins 18. Jahrhundert behielt.4 Neben der Themse war die Stadt von zahlreichen Bächen und Kanälen durchzogen, viele Häuser hatten Gärten und man hielt sich selbstverständlich Vieh.5
London war nicht besonders groß. Das eigentliche Zentrum bildete das Gebiet innerhalb der Stadtmauer. Etwa 2,6 Quadratkilometer am Nordufer der Themse, die heute als "City of London" bezeichnet werden. Rechnete man noch Westminster und die Ufergegend von Southwark dazu, ergab das eine Fläche von 15,53 Quadratkilometer.6 Bis zur Reformation prägten vor allem religiöse Bauten das Stadtbild. Das änderte sich Mitte des 16. Jahrhunderts, als viele dieser Bauten dem reformatorischen Eifer zum Opfer fielen. Gebäude wurden abgerissen, verfielen, wurden umgebaut oder neu gebaut. Das London, das Marlowe irgendwann 1587 betrat, war eine Stadt der Ruinen und Baustellen.7 Es entstanden hauptsächlich Wohnhäuser im Fachwerkstil, die allerdings nicht, wie allgemein angenommen, weiß getüncht waren. Die Elisabethaner bevorzugten dezente Erdfarben an ihren Häusern. Trotzdem gab es immer noch 110 Pfarrkirchen alleine in der City. Das Kirchenspiel bildete eine Art Verwaltungseinheiten, vergleichbar den Bezirken. Die typische Kirchengemeinde umfasste ungefähr fünfzig Haushalte. Jeder kannte seine Nachbarn und wusste, was bei ihnen daheim vorging.8 Dabei galt London bei ausländischen Besuchern als Stadt, in der besonders Wert auf Privatsphäre gelegt wurde.9
Man konnte Englands Metropole durch eines der sieben Stadttore oder über die London Bridge betreten. Sie war die einzige Brücke über die Themse, die man ansonsten nur mit Fähren überqueren konnte. Auf beiden Seiten standen schöne Häuser, die bis zu vier Stockwerke hoch waren und hauptsächlich von wohlhabenden Bürgern und Kaufleuten, die im Erdgeschoss ihren Laden hatten, bewohnt wurden. Berüchtigt war das Great Stone Gateway, das südlichste Tor der London Bridge, auf dem die Köpfe hingerichteter Verräter aufgespießt wurden. 1305 hatte man mit diesem Ritual begonnen, indem man das Haupt von William Wallace auf den Zugbrückenturm, der später abgerissen wurde, zur Schau gestellt hatte und hörte erst 1746 damit auf.10 Die Metropole hatte aber noch andere Sehenswürdigkeiten. Eine typische Stadtführung begann beim Tower führte über die Königliche Börse in den Westen nach Cheapside, den Sitz von Londons besten Handwerkern, zur Kathedrale von St Paul’s aus der Stadt hinaus zum Strand, wo die Adeligen ihre prachtvollen Stadthäuser hatten, bevor es nach Whitehall und Westminster ging. Whitehall war kein Palast im herkömmlichen Sinn, sondern eine Anordnung von Gebäuden, die mehr einem Dorf glich. Kardinal Wolsey hatte es 1530 Henry VIII. geschenkt. In Westminster war der Standort der berühmten Kathedrale sowie die Wirkungsstätte der Rechtsgelehrten, obwohl die Rechtswissenschaft in den vier Inns of Court (Gray’s Inn, Lincoln’s Inn, Inner Temple Inn und Middle Temple Inn) gelehrt wurde. Das tatsächliche Zentrum der Stadt war St Paul’s. Die Kathedrale wurde während des großen Feuers von London 1666 zerstört und danach von Sir Christopher Wren in ihrer heutigen Form neu geplant. Im 16. Jahrhundert war St Paul’s noch eine normannische Kathedrale ohne Turmspitze, die abgebrannt war, nachdem der Blitz eingeschlagen hatte. Im Hauptschiff der Kathedrale traf man Kaufmänner, die Verträge abschlossen, Dienstboten, die eine Anstellung und Prostituierte, die Kunden suchten, harmlose Touristen und raffinierte Taschendiebe. An den Außenwänden waren die Stände der Buchhändler aufgebaut. St Paul’s war das Miniaturbild der pulsierenden Stadt, die London damals war. Die Gegend rund um die St Pancras Old Church hingegen war den Londonern unheimlich und sie hielten sich dort nach Einbruch der Dunkelheit nicht gerne auf. Der dortige Friedhof war die Endstation für Selbstmörder und Opfer von Duellen.11
Es herrschte im wahrsten Sinne des Wortes ein ständiges Kommen und Gehen, denn die damalige Lebenserwartung lag bei dreißig Jahren. Die Londoner Bevölkerung war jung, aktiv und laut. Mehr als 50 Prozent der englischen Bevölkerung war unter fünfundzwanzig.12 Handwerker hämmerten, Händler schrien auf den zahllosen Märkten, die täglich stattfanden, Karren rumpelten durch die Straßen, die Menschen unterhielten sich, das Vieh brüllte, grunze, oder gackerte – und all das wurde durch die Häuserfronten, die eine Art Schalltrichter bildeten, noch verstärkt. Außerdem gingen die jungen Männer Londons einem ungewöhnlichen Sport nach: dem Glockenläuten. Man wettete gerne, wer den schönsten, lautesten oder längsten Glockenklang in einer der zahlreichen Kirchen zustande bringen könnte. Daran änderte selbst die Reformation nichts. Elizabeth I. schloss von dieser Begeisterung für das Glockenläuten sogar auf eine gute Volksgesundheit. Verwunderlich, wenn man bedenkt, dass über der Stadt eine Rauchwolke hing, die sogar das Innere der Häuser schwarz färbte. Die Gießerei von Lothbury brachte von Norden den Geruch gebrannter Ziegeln, der auf den Talggestank aus der Paternoster Row traf, bevor er sich mit dem Duft des Viehmarkts am östlichen Ende von Cheapside und dem Verwesungsgeruch des Friedhofs von St Paul’s vermischte.13 Zur Existenz in London gehörte also ein Überangebot an Kakophonie und olfaktorischen Grausamkeiten, das Marlowe vielleicht an seine Kindheit in Canterbury erinnert hatte, für die Gesundheit der Stadtbewohner jedoch nicht förderlich war. Zu Marlowes Lebzeiten erlebte die englische Hauptstadt drei größere Pestepidemien. Außerdem boten sumpfigen Gegenden und Kloaken ideale Lebensbedingungen für Stechmücken, was zu wiederholtem Auftreten von Schweißfieber, einer Art Malaria, führte.
Das südliche Themseufer war Sumpfland. Nur Southwark erinnerte noch an die Stadt, obwohl es nicht zu deren Jurisdiktion gehörte. Also der ideale Platz für Theater, Tierarenen und Bordelle. Noch weiter im Süden lag das Dorf Lambeth, wo der Londoner Palast des Erzbischofs von Canterbury stand. Der Norden wirkte da schon einladender. In Moor Fields legten die Wäscherinnen das Leinen zum Trocknen auf, in Finsbury Field standen etlichen Windmühlen und die Gegend animierte zum Spazierengehen und Erholen. London verfügte mit St Bartholomew’s, St Thomas und St Mary of Bedlam, das sich jedoch auf die Behandlung von Geisteskranken spezialisiert hatte, nur über drei Krankenhäuser. Dafür gab es zahlreiche Gefängnisse, die sich nicht über mangelnde Belegschaft beklagen konnten. Die Auflassung der Klöster hatte viele Menschen zu einem Vagabundendasein verurteilt. Gepaart mit der üblichen Kriminalitätsrate machte das nicht London keineswegs sicherer. Am Strand, wo sich eigentlich die Reichen und Mächtigen tummelten, stand das Savoy, ein verfallenes Gebäude, aus dem Henry VII. ein Armenhaus hatte machen lassen. Aus unbekannten Gründen wurde diese Anordnung nie richtig durchgeführt. Stattdessen zogen Diebe und Bettler dort ein – wenig zur Freude ihrer illustren Nachbarn. Es gab nicht nur – ähnlich den Handwerksgilden – eine eigene Diebeszunft, sondern nahe Billingsgate sogar eine Schule für Taschendiebe.14 Die Situation wurde selbst von denen, die laut vorherrschender Meinung auch zu diesen Randgruppen zählten, für verbesserungswürdig angesehen. Thomas Lodges und Robert Greenes A Looking Glasse for London and England, das um 1590 entstand, sowie Greenes Connycatching Tracts von 1591/92 enthalten sowohl Zeitkritik als auch gelegentliche Aufrufe an die Obrigkeit, endlich der Fülle an Verbrechen Einhalt zu gebieten. Bereits Ende des 16. Jahrhunderts hatte das Leben in der Stadt viel von seinem Reiz verloren.15