1952 fanden in Cambridge im Teil des Corpus Christi Colleges, in dem wahrscheinlich einst Marlowe logiert hatte, Umbauarbeiten statt. Dabei wurden unter anderem zwei Eichenpanelen entfernt, die ein Student zum Bau eines Hi Fi-Regals verwenden wollte. Als er entdeckte, dass sie bemalt waren, brachte er sie zum Bibliothekar John Patrick Tuer Bury. Eine Schwarz-Weiß-Fotografie wurde an die National Portrait Gallery geschickt, wo man jedoch keine Angaben über die Person machen konnte, weil sie mit keinem bekannten Portrait Ähnlichkeiten aufweist. Da die Paneele in ausgesprochen schlechtem Zustand waren, beauftragte das College Holder & Sons mit der Restaurierung. Nach getaner Arbeit ging das Gemälde zurück an das Corpus Christi College, wo es seither hängt.1
Die Provenienz des Portraits von vor 1952 ist ebenso unbekannt wie der Name des Malers und letztlich auch der des Modells.
Das Bild ist etwa 45,72 x 60,96 cm (18 x 24 Zoll) groß. In seiner oberen linken Ecke steht "Ætatis suae 21 1585" (sein Alter 21 1585). Die Angaben würden mit Marlowes Daten übereinstimmen. Er hätte damals gerade seinen BA gemacht – ein erfreuliches Ereignis, aber sicher nicht von solchem Ausmaß, dass der Sohn eines Schuhmachers auf die Idee verfallen könnte, sich porträtieren zu lassen.
"But there were other young men in Cambridge of those years at that moment and the gilded youth who stares from the portrait does not look like a hard-up shoemaker’s son, still (normally) an aspirant for holy orders."2
Darüber hinaus fällt die Kleidung auf, die für einen Handwerkersohn viel zu kostbar ist.
Von besonderem Interesse ist die Inschrift darunter "Quod me nutrit me destruit." (Was mich nährt, zerstört mich.) Bis dato wurde weder eine griechische noch eine lateinische Quelle dafür gefunden. Ebenso erfolglos war die Suche in der englischsprachigen Literatur. Die Elisabethaner kannten jedoch das Motto "Quod me alit me extinguit." (Was mich nährt, löscht mich aus.) Zeitgenössische Wappenbücher brachten es mit dem Emblem, das eine umgedrehte brennende Fackel zeigt, in Verbindung. Monsignore di San Valiere, ein Mailänder, der 1515 unter François I. in der Schlacht bei Marignano kämpfte, hatte dieses Emblem auf seiner Standarte.3 In keinem Werk Marlowes wird die Inschrift oder das Motto erwähnt. Hingegen findet man bei Shakespeare zwei Variationen der Phrase.
"Thaisa: A burning torch that’s turned upside down;
The word, 'Quod me alit, me extinguit.'
Simonides: Which shows that beauty hath his power and will,
Which can as well inflame as it can kill."4
Und in Sonett 73 heißt es:
"In me thou seest the glowing of such fire,
That on the ashes of his youth doth lie,
As the death-bed, wereon it must expire,
Consum’d with that which it was nourish’d by."5
Das Corpus Christi College behauptete niemals, dass ihr Portrait Christopher Marlowe zeigen würde. Es war Calvin Hoffman, der zwei Jahre nach der Entdeckung des Bildes eindeutige Parallelen zwischen dem Cambridge-Portrait und dem Stich, den Martin Droeshout 1623 von William Shakespeare für die erste Folio-Ausgabe angefertigt hatte, erkannt haben wollte. Um seine Theorie von einem Christopher Marlowe, der auch Shakespeares Werke verfasst hatte, zu untermauern, musste er demnach annehmen, dass das Cambridge-Portrait Marlowe zeigte.6 Nur gibt es keinen Hinweis, der diese Überlegung bestätigen würde. 1585 hatte das Corpus Christ College 111 Studenten, von denen schätzungsweise ein Siebentel in diesem Jahr ihren 21. Geburtstag feierten.7 Selbst wenn Marlowe über die finanziellen Mitteln verfügt hätte, woran gezweifelt werden darf, wenn man berücksichtigt, dass James Wheatley und Edward Elvyn Anfang 1589 Marlowes ausstehende Zahlungen einklagen mussten,8 gab es keinen Grund, warum er sich hätte porträtieren lassen oder das College solch ein Bild hätte in Auftrag geben sollen. Marlowes Karriere verlief nicht, wie sie für den Inhaber eines Matthew Parker-Stipendiums des Corpus Christi vorgesehen war. Er diente eher als abschreckendes Beispiel denn als exemplarisches Vorbild, das man nachfolgenden Studenten unbedingt vor Augen hätte hängen müssen. Ebenso wenig erlaubte sein sozialer Status ein Portrait. Er war ein Stipendiat aus der Arbeiterschicht, der sich auch bei Außerachtlassung der gesetzlich verankerten Kleidungsvorschriften, nie so luxuriös gekleidet hätte, wie der abgebildete Mann. Trotzdem wird seit über fünfzig Jahren hauptsächlich das Cambridge-Portrait als Abbild Christopher Marlowes propagiert. Wiewohl sich in den letzten Jahren Widerspruch gegen diese Mutmaßung regte,9 wird sie gerne weiterhin vertreten. Wissenschaftler, die alle anderen Überlegungen Calvin Hoffmans strikt ablehnen, klammern sich an seine These über dieses Bild, weil sich vermutlich niemand eingestehen will, dass: "[…] the only reason to identify this as a portrait of Marlowe, rather than of one of his schoolmates, is that it is Marlowe we want a portrait of."10 Nach derzeitigem Wissensstand muss man ehrlich gestehen: Wir haben keine Ahnung, wie Christopher Marlowe ausgesehen hat.