Als Marlovians (Marlowianer) werden seit 1955 Leute bezeichnet, die glauben, Christopher Marlowe hätte seinen Tod 1593 überlebt, um danach die Werke zu schreiben, als deren Autor allgemein William Shakespeare gilt.1
Im August 1819 erschien in der Monthly Review eine anonyme Besprechung von Nathan Drakes Shakespeare and his Times. Der Verfasser schlug eine bis dato unbekannte Sichtweise auf die Biografie von Shakespeare und Marlowe vor.
"There is however something very enigmatic about this Christopher Marlowe. Of his birth-place and early years nothing is known: but just at the time when Shakspeare left Stratford, he appears on the London boards as a distinguished actor, and an admirable play-wright […] in 1592, an improbable story was circulated, that Marlowe had been assassinated with his own sword, which attracted no judicial inquiry; and Shakspeare became immediately the same distinguished actor, the same admirable play-wright, that Marlowe had been just before. Can Christopher Marlowe have been a nome de guerre assumed for a time by Shakspeare?"2
Derselbe Autor verwies über ein Jahr später erneut auf seine Theorie.3 Mittlerweile ist die Identität des Verfassers bekannt. Es handelt sich um den Mann, der 1820 in einem Leserbrief an The Monthly Magazine, dem Konkurrenzblatt der Monthly Review, die Existenz Christopher Marlowes verteidigte.4 William Taylor neigte zu solchen Scherzen. Er veröffentlichte in konkurrierenden Blättern entgegensetze Ansichten, um dadurch eine öffentliche Debatte anzustoßen. In diesem Fall wollte er die Aufmerksamkeit auf Marlowe lenken, von dessen Biografie kaum etwas bekannt war und der drohte in der allgemeinen Shakespeare-Begeisterung der Romantik vergessen zu werden. Taylor, selbst kein großer Bewunderer Shakespeares, war an einer umfassenderen Beschäftigung mit der englischen Renaissance-Literatur gelegen. Vielleicht hat sein Schabernack tatsächlich etwas gebracht. Einige Zeit später entdeckte James Broughton den Eintrag Marlowes im Beerdigungsregister in Deptford.5 Taylor verwies 1824 auf diese Entdeckung und widerrief seine "Theorie" von der Nichtexistenz Marlowes.6
In Form einer fiktionalen Erzählung verlieh Wilbur Gleason Zeigler 1895 in It Was Marlowe seiner Ansicht Ausdruck. Unter dem Pseudonym William Shakespeare habe Marlowe nach seiner vorgetäuschten Ermordung in Deptford weiterhin Dramen verfasst.7 Wenige Jahre später publizierte Mendenhall seine stilometrischen Untersuchungen, die ihn zu der Frage führten, ob nicht doch Marlowe auch Shakespeare war. Danach wurden – nicht immer mit Berufung auf Mendenhall – tatsächlich Stimmen laut, die auf solch eine Anerkennung pochten.8 Dies alles war geschehen, bevor Hotson den Untersuchungsbericht zu Marlowes Ermordung gefunden hatte.9 In diesem Licht erscheint Calvin Hoffmans The Murder of the Man Who was Shakespeare von 1955 um so abwegiger. Weil der Privy Council Marlowe ausliefern wollte, floh er, nachdem er seinen eigenen Tod vorgetäuscht hatte, auf den Kontinent. Dort schrieb er fleißig weiter und schickte die Manuskripte nach England, wo ein William Shakespeare als Strohmann für die Veröffentlichungen fungierte.10 Hoffman sah seine Arbeit weder als Scherz noch als Fiktion, sondern als seriösen Beitrag.
Verglichen mit den Theorien der Marlovians ist jeder Dan Brown-Roman ein profund recherchierter Tatsachenbericht, aber an trüben Tagen in düsterer Stimmung hebt das Lesen ihrer Ausführungen stets die Laune. Allerdings darf man das nicht laut sagen. Denn es handelt sich um eine von diesen Verschwörungstheorien
"[…] wie sie im Zusammenhang mit Shakespeare seit der Romantik, vorwiegend bei eher literaturfernen Kreisen, üppig ins Kraut schießen. Dafür sorgt eine kunterbunte Fantasy-Abteilung der Literaturgeschichte, die ihr Steckenpferd mit ähnlicher Hingabe reitet wie jene englischen Sherlock-Holmes-Fans, die ewig neue Details aus dem Privatleben ihres Idols zutage fördern – nur meist mit etwas weniger Humor. Denn man sieht sich, ungeachtet aller Divergenzen, einhellig als Opfer einer finsteren Verschwörung, angezettelt von den vermeintlichen Experten, um das Geheimnis des wahren Shakespeare im Dunkeln zu lassen. Und der zu erwartende Spott der Uneinsichtigen schlägt wohl im Voraus aufs Gemüt."11
Kaum zu glauben, aber es gibt wirklich mehrere Gruppierungen, die mit Kreuzzugsmentalität versuchen ihren jeweiligen Wunschkandidaten als den eigentlich Shakespeare zu etablieren. Man hat manchmal den Eindruck, dass die wahren Gegner der Marlovians nicht das Establishment, sondern die Oxfordians (Sie sind der Ansicht, Edward de Vere, Earl von Oxford hätte Shakespeares Œuvre verfasst.) sind.12 Unter Marlovians wie Oxfordians gibt es die Tendenz die Urheberschaft eines jeden englischen (und manchmal auch anderssprachigen) Schriftstücks von der Suprematsakte über Hamlet bis zum Kochrezept Marlowe bzw. Oxford zuzuschreiben.13 Für alle, die sich mit der elisabethanisch-jakobinischen Literatur beschäftigen, schlage ich vor, sich auf eine neue Theorie zu einigen: In dieser Ära haben nur zwei geniale Schriftsteller existiert: Edward de Vere und Christopher Marlowe. Beide haben unabhängig voneinander in identischer Form alle Texte der infragekommenden Epoche geschrieben. Da Marlovians wie Oxfordians (in dieser Sache) keinen Spaß verstehen, muss ich es leider extra hinzufügen: Diese Theorie ist ein Witz! Man möge sich bitte nicht auf die Suche nach "Beweisen" dafür machen.
- Nach einem höchst unerfreulichen Mailwechsel mit einem Marlovian sah ich mich genötigt diesen Beitrag, der ursprünglich nur aus dem ersten Absatz bestand, ausführlicher zu gestalten.↩︎
- William Taylor (1819), 361-362↩︎
- William Taylor (1820a)↩︎
- William Taylor (1820b)↩︎
- Chandler (1994)↩︎
- William Taylor (1824)↩︎
- Zeigler (1895)↩︎
- Watterson (18.07.1920); Webster (1923)↩︎
- Hotson (1925)↩︎
- Hoffman (1955)↩︎
- Koppenfels (18.11.2011)↩︎
- Detobel (2009); Farey (23.09.2009)↩︎
- Zenner (1999); Conrad (2011); Whittemore (2017)↩︎