Der "marlowesche Held" (marlovian hero) ist ein Sammelbegriff für die gänzlich neuen Charaktere, die Marlowe erstmals auf die Bühne brachte. Dabei handelt es sich um Soziopathen mit – wenn überhaupt – gestörten familiären Bindungen, die mit ungehemmtem Individualismus, ungezügelter Brutalität, ans Absurde grenzender Maßlosigkeit sowie bemerkenswerter Professionalität jegliche Grenzen überschreiten. Es sind: "[…] ins Gigantische gesteigerten Helden […]" mit "[…] hemmungsloser, zur Ausbeute des Diesseits bis zur Aufgabe der Seele bereiten Natur."1 Dass sie damit teilweise erfolgreich sind und vom Publikum bewundert wurden, negierte den moralischen Erziehungswert, den das damalige Theater erfüllen sollte, völlig.
Es ist die Leidenschaft, die seine Figuren zu Größe und zu Fall bringt.2 Sie haben Brüche, erfahren aber keine Entwicklung.
"For Marlowe, character is completed in the spectacle. He does not graph the development of a personality, but projects its internal conflicts into dramatic images. This explains why many of his scenes are unsatisfactory when regarded as psychological studies."3
Bei Marlowe ist das Streben nach Macht geschlechterübergreifend, wenn auch mit unterschiedlichen Zielen.
"Where Marlowe’s men tend to seek power for the purpose of determining the destinies of others, those of Marlowe’s women who pursue power more often do so in order that they may determine their own destinies. […] Marlowe allows many women of his female characters to intervene in, and offer resistance to, the male orientated social structures which govern the worlds of his plays."4
Bereits in seinem ersten großen Drama Tamburlaine manifestierte Marlowe eine Art Programm, dem er in allen Stücken treu blieb. Stets wird eine grandiose Sprache den erbarmungslosen Taten seiner Figuren gegenüberstehen,5 die einer Schönheit des Grauens verfallen sind6. Jeder seiner Helden wird bar von Freundlichkeit7 mit brutaler Hartnäckigkeit nach Selbstverwirklichung streben,8 was sie im Widerspruch zu einer höheren Autorität stehen lässt9. Marlowes Helden sind überlebensgroß, maßlos in ihren Fehlern wie in ihren Eigenschaften. Sie wollen die ganze Welt erobern, grenzenlosen Reichtum erlangen, alles Wissen besitzen. Ihre Verse, sind dementsprechend kraftvoll, rhetorisch, reich an Metaphern und Effekten.10 Marlowes Protagonisten sind Besessene, angetrieben von dem Verlangen nach Land, Geld, Macht oder Wissen.11 Und sie leben jenseits der Religion. Der marlowesche Held ist konfessionslos. Hat er das erst erkannt, ist es unwichtig, ob sein Ursprung im Islam, Judentum oder Christentum liegt. In dieser Hinsicht ist Marlowe völlig frei von Vorurteilen. Keines seiner Dramen endet – ganz im Gegensatz zu Shakespeare – mit einer Erneuerung oder gar Hoffnung auf eine bessere, geordnete Welt. Seine Grundstimmung bleibt durchwegs eine pessimistische.12 Ein weiterer Unterschied zu Shakespeare ist die Gegenwartsbezogenheit. Marlowe hat eine ungewöhnliche Vorliebe für das Wort "now", vor allem bei Satzanfängen.13 Gerade dieses "jetzt" ist ein wichtiges Merkmal all seiner Helden. Sie haften nicht an der Vergangenheit und sorgen sich auch nicht um das Morgen. Jeder von Ihnen will den einen Augenblick, in dem er existiert, voll ausleben. Marlowes Helden sind:
"[…] large in imagination, restless in spirit, incisive in logic directed against Christian dogma, hungry for truth, superbly self-confident, and desirous of being held to be a god."14
Sie werfen der Ordnung des Universums den Fehdehandschuh hin. Ihre Missachtung erinnert an Prometheus, ihre Ziele an Ikarus und ihr Forderungen an die Titanen.15 Genaugenommen reagierte er damit auf die Entwicklungen seiner Zeit. Das ausgehende 16. Jahrhundert war eine Ära der gigantischen Widersprüche. Europas Herrscher erhoben das Gottesgnadentum zum internationalen Dogma und erlebten doch die erste Hinrichtung einer gesalbten Königin. Man beharrte auf ein striktes hierarchisches Ordnungssystem, während der Individualismus begann, hemmungslos alle Grenzen zu überschreiten. Auf der einen Seite wurden blutige Kämpfe für den einzig wahren Gott ausgetragen, von dem zugegeben wurde, dass er nur mehr dem politischen Zweck diene. Aberglaube, Astrologie und Alchemie hielten ihre Anhänger nicht davon ab, wissenschaftliches Neuland zu entdecken. Spanien, eines der größten und reichsten Länder, musste mehrmals den Staatsbankrott erklären. Man betrachtete die Frau als untergeordnetes Wesen, obwohl zugleich drei Frauen die Geschicke europäischer Länder leiteten. Es war die Zeit, in der einfach alles möglich war und das sollte sich auch in der Kunst widerspiegeln. Marlowe schuf Figuren, die faszinierend und abstoßend, imaginativ und engstirnig, herzzerreißend und hassenswert, orthodox und modern, gleichzeitig Götter und Menschen, Genies und Versager, Helden und Feiglinge, Gläubige und Atheisten sind. Damit nimmt Marlowe wichtige Tendenzen des 20. Jahrhunderts vorweg.
"Ich bin frei. Jenseits der Angst und der Erinnerung. Frei. Und mit mir eins."16
Tamburlaine, Faustus, Barabas oder Guise könnten das ohneweiters von sich behaupten. Tatsächlich stammt diese Selbstbeschreibung von Orest aus Jean-Paul Sartres Die Fliegen. Neben der Freiheit teilen Marlowes Charaktere eine weitere Eigenschaft mit den Helden des Existenzialismus.
"Ich bin verurteilt für immer jenseits meines Wesens zu existieren, jenseits der Antriebe und Motive meiner Handlung: ich bin verurteilt, frei zu sein."17
Letztendlich sind sie alle einsam. Etwaige familiäre Bindungen sind bestenfalls problematisch.
Noch umfangreicher ist Marlowes Antizipation einer Strömung der Unterhaltungsindustrie im ausgehenden 20. Jahrhundert, praktizierte er doch, wofür Quentin Tarentino damals berühmt wurde. Er montierte Altbekanntes mit Neuem, brach mit Traditionen und Vorbildern, vermischte Triviales mit Intellektuellem, schuf gewaltige wie gewalttätige Helden, die man aus heutiger Sicht als Soziopathen bezeichnen könnte, steigerte die Gewalt ins Absurde und begeisterte damit die Massen. Indem Marlowe bereits im Prolog von Tamburlaine die Zuseher auffordert, das Drama nach ihrem Gutdünken zu beurteilen, betrachtet er das Theater nicht wie bisher als Ort des moralischen Exempels oder der erzieherischen Darstellung.18 John Barry Steane19 und A. L. Rowse20 sahen Mitte der 1960er Jahren in The Massacre at Paris ein geschmackloses Drama, das bestenfalls als Inspiration für die Macher blutrünstiger, reißerischer Kinofilme dienen würde. 1998 schrieb Kristen Elizabeth Poole als Reaktion darauf, nichts, was Steane und Rowse bekritteln, würde Akira Kurosawa oder Quentin Tarantino erröten lassen.21
Marlowe hatte erstmals auf der Bühne bewiesen, dass alles möglich ist. Was die Elisabethaner von Marlowes Figuren lernen konnten, war, dass rücksichtsloser Individualismus, antiautoritäres Verhalten und soziale Überheblichkeit ungestraft zum Ziel führen. Sie dachten nicht daran es nachzuahmen, doch sie bewunderten es – eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Film- und Fernsehsektor der 1990er Jahre, als Figuren der sogenannte "Generation Q" das Publikum faszinierten. Ihr Namensgeber war das allmächtige Wesen aus der TV-Serie Star Trek – The Next Generation, das jenseits aller ethischen Gebote und zwischenmenschlichen Regeln existiert. Das war der Platz für die wahren Soziopathen, deren Frage nicht mehr: "Was ist erlaubt?", sondern "Was erlaube ich mir?" lautete. Die Negierung aller Maxime führte zur totalen Freiheit und absoluten Selbstverwirklichung. Die eigenen Bedürfnisse und Wünsche wurden zum Maß aller Dinge. Willkür und Unberechenbarkeit waren zum Lebensprinzip geworden. Man wusste vielleicht noch um Gut und Böse, aber man kümmerte sich nicht mehr darum.22 Selbstverständlich war diese Philosophie nicht ganz neu. Ihre Wurzeln finden sich im Hedonismus, Surrealismus und Existenzialismus. Letztlich kumulierten all diese Strömungen in Filmen wie The Silence of the Lambs, Natural Born Killers, From Dusk Till Dawn, The Usual Suspects oder Se7en. Serienmörder, Profikiller, Psychopathen – Wesen, die aus freiem Willen abseits der Gesellschaft stehen – wurden zu den neuen Sympathieträgern und Identifikationsfiguren. Marlowe kann für sich beanspruchen diesen Trend bereits in den 1590er Jahren etabliert zu haben.
- Schirmer-Imhoff (1951), 154↩︎
- Laschitz (1952)↩︎
- Powell (1964), 208–9↩︎
- Gibbs (2000), 175–76↩︎
- Deats (2002)↩︎
- Price (1962)↩︎
- Kocher (1938)↩︎
- Danson (1986)↩︎
- Praz (1931); Ribner (1954)↩︎
- Carter and McRae (2017)↩︎
- Clare (2000)↩︎
- Ribner (1964)↩︎
- Taylor (1945)↩︎
- Kocher (1940), 34↩︎
- Ornstein (1968)↩︎
- Sartre (1991), 174↩︎
- Sartre (1993), 764↩︎
- Clare (2000); Honan (2005)↩︎
- Steane (1964)↩︎
- Rowse (1966)↩︎
- Poole (1998)↩︎
- Blask (1996)↩︎