Henri de Lorraine, Herzog von Guise (* 31. Dezember 1550; † 23. Dezember 1588) ist die größte Rolle in Marlowes Drama The Massacre at Paris.
Die Familie Guise zählte nicht zur französischen Hocharistokratie. Claude de Lorraine zeichnete sich in den Feldzügen François I. aus, der ihn 1528 zum Herzog von Guise und Pair von Frankreich erhob. Damit stand er über Nacht fast auf derselben Stufe wie die Familien Bourbon und Condé. In erstere heiratete er dank Antoinette de Bourbon auch noch ein. Seine Kinder stiegen die soziale Leiter weiter hinauf. Charles de Lorraine-Guise wurde einer der bedeutendsten Kirchenfürsten seiner Zeit, der Frankreich am Konzil von Trient vertrat. Marie de Guise vermählte sich in zweiter Ehe mit James V. von Schottland und wurde Mutter einer Tochter, die unter dem Namen Mary Stuart später viel von sich reden machen sollte. Der Erstgeborene François de Lorraine wurde 1550 Herzog von Guise und erlebte 1558 die Ehe seine Nichte Mary mit François, dem ältesten Sohn von Henri II. und Caterina de' Medici. Im Jahr darauf bestieg François II. den französischen Thron. Damit wurden Marys Onkeln zu den mächtigsten und einflussreichsten Männern des Königreichs, allerdings verstarb François II. bereits am 5. Dezember 1560. Seine Mutter übernahm die Regentschaft für den minderjährigen Charles IX. und war bemüht, nie wieder einer Familie so viel Macht zuzugestehen. Dennoch blieb der Herzog von Guise ein nicht zu unterschätzender Faktor, besonders vor dem Hintergrund der beginnenden Konflikte zwischen Katholiken und Hugenotten. Er war ein Hauptakteur im Massaker von Vassy, das den Anfang der französischen Religionskriege markierte. Im Februar 1563 schoss der Hugenotte Jean de Poltrot auf den Herzog von Guise. Am 24. Februar starb der Herzog, der eher der Kunst der Ärzte als seinen Wunden erlag. Als Auftraggeber des Attentats vermutete man, ob zu Recht konnte nie festgestellt werden, Gaspard de Coligny. Guise und Coligny hatte ursprünglich eine enge Freundschaft verbunden, die im Laufe der Jahre zu einer tiefen Abneigung geworden war. Henri, der älteste Sohn und Nachfolger des verstorbenen Herzogs, machte ausschließlich Coligny für den Tod seines Vaters verantwortlich. François de Lorraine war mit Anna d’Este, einer Enkelin Lucrezia Borgias, verheiratet gewesen. Ihr Sohn Henri dürfte einige Eigenschaften seines Ururgroßvaters Papst Alexander VI. geerbt haben.
Guise kämpfte erfolgreich in den Religionskriegen und war eine wichtige Person am französischen Hof, bis 1570 sein Verhältnis mit Marguerite, der Schwester des Königs bekannt wurde. Der Herzog hatte wirklich auf eine Heirat gehofft, was Charles IX. empörte. Guise wurde vorübergehend vom Hof entfernt und mit Catherine de Clèves vermählt. Der Ehe zwischen Marguerite und Henri de Navarre stand er demnach in mehrerer Hinsicht ablehnend gegenüber. Bis heute gilt Guise als der wahrscheinlichste Auftraggeber für das Attentat auf Coligny. Vermutlich nahm er am Abend des 23. Augusts an einer Beratung im Louvre teil, bei der Charles IX. die Zustimmung zur Tötung der führenden Hugenotten (etwa zwei bis drei Dutzend Männer) gab. Für die Ermordung Colignys war eindeutig Guise verantwortlich. Er ließ sogar dessen Leiche aus dem Fenster in den Hof werfen, nur um sich davon zu überzeugen, dass es sich wirklich um den Admiral handelt. Als die Situation in Paris außer Kontrolle geriet, war Guise eventuell gar nicht mehr in der Stadt, sondern auf der Suche nach weiteren militärischen Führern der Hugenotten. Von dem Ausmaß, das das Massaker annahm, war er ebenso überrascht wie alle anderen.1
Zwar stand Caterina de' Medici dem Machtstreben von Guise stets skeptisch gegenüber, zu einem Konflikt mit der Krone kam es erst, als Henri III. den Thron bestieg. Der Herzog fühlte sich einerseits gegenüber den Mignons zurückgesetzt. 1587 rechnete er nach dem Tod von Joyeuse fest mit dem Posten als Gouverneur der Normandie. Das war Frankreichs einträglichste Provinz und Guise hatte trotz der spanischen Unterstützung Schulden. Tatsächlich übertrug der König alle Ämter von Joyeuse an Épernon.2
Andererseits lehnte Guise, wie viele Katholiken, die teilweise hugenottenfreundlichen Tendenzen Henri III. ab. Als 1584 Alençon starb, womit Navarre als nächster Thronfolger feststand, kam es im Herbst zur Gründung der Heiligen Liga und Ende des Jahres zum Vertrag von Joinville.
Guise verfügte sicher über eine enorme Hybris. Er hatte sich bereits 1570 als Schwager von Charles IX. gesehen. Sechs Jahre später tauchte ein Schreiben auf, in dem Guise Ansprüche auf den französischen Thron beschieden wurden. Das sogenannte David Mémorial zirkulierte ab September 1576 in Paris. Der Anwalt Jean David war gerade aus Rom zurückgekehrt, als er in Lyon starb. Bei seiner Leiche wurde ein Schriftstück gefunden, dass behauptete, das Haus Guise stamme direkt von Karl dem Großen ab, weshalb es in der Thronfolge Vorrang vor den Carpetingern, die degeneriert und von Gott verflucht seien, hätte. Nachdem Henri III. in ein Kloster gesteckt worden sei, solle der Papst den Herzog von Guise zum französischen König machen. Zumindest eine Kopie gelange bis nach Spanien. Philipp II. gab sie dem französischen Botschafter, der sie sofort an seinen Herrscher schickte. Erst dann nahm Henri III. die ganze Angelegenheit zur Kenntnis.3 Die Vorschläge der Heiligen Liga für eine katholische Thronfolge waren allesamt nicht gut durchdacht. Charles de Bourbon de Vendôme, der letzte noch lebende Onkel von Henri de Navarre war ein über 60 Jahre alter Kardinal. Philipp II. hatte seine Tochter Katharina Michaela, die Herzogin von Savoyen, als Thronerbin vorgeschlagen. Ihre Mutter, Elisabeth, war eine verstorbene Schwester Henri III. Eine Regelung, die gänzlich dem Salischen Gesetz widersprochen hätte. Dasselbe galt für Guise, der über seine Großmutter väterlicherseits mit den Bourbonen verwandt war. Für eine Verwandtschaft mit den Valois muss man noch weiter zurückgehen. Guises Ururgroßmutter Yolande d’Anjou war eine Urururenkelin von Philipp VI., dem ersten König aus dem Hause Valois. Mit beiden Familien war das Haus Guise kognatisch also über eine weibliche Person verwandt, womit wiederum das Salische Gesetz schlagend wurde. Zwar trug die Liga nach Guises Tod sämtliche Gründe, die für eine Absetzung Henri III. sprachen, zusammen,4 letztlich waren die Franzosen aber nicht gewillt, derart massive Eingriffe in die Thronfolge zuzulassen.
1588 war Guise auf dem Höhepunkt seiner Macht. Obwohl Henri III. ihm untersagt hatte, die Hauptstadt zu betreten, kam Guise im Mai nach Paris. Bernardino de Mendoza, der spanische Botschafter, sollte im Auftrag von Philipp II. Frankreichs Aufmerksamkeit vom geplanten Auslaufen der Armada Richtung England ablenken,5 wofür sich Guises Auftritt gut eignete. Als der König von der Anwesenheit des Herzogs erfuhr, ließ er seine Truppen aufmarschieren. Sofort verbreitete sich das Gerücht, die königlichen Soldaten sollten Guise und seine Anhänger töten. Am 12. Mai 1588 gingen die Pariser deshalb auf die Barrikaden. Die Stadt war fest in Guise Hand und Henri III. zog sich aus seiner Hauptstadt nach Chartres zurück. Am 21. Juli 1588 musste er in Rouen das Unionsedikt unterzeichnen, das den Vertrag von Nemours bestätigte, Charles de Bourbon als Thronfolger anerkannte, die Leitung der gewünschten Provinzen sowie den militärischen Oberbefehl an Guise übertrug und die Entlassung von Épernon vorsah. Eine Rückkehr nach Paris verweigerte der König hingegen. Sobald im Herbst die Niederlage der Armada bekannt wurde und Spaniens Augenmerk nicht mehr auf Frankreich lag, rief Henri III. die Generalstände ein. Doch auch dort dominierten Guise und die Heilige Liga.
Es gab wiederholt Gerüchte, dass Henri III. und Guise planten, den jeweils anderen ermorden zu lassen. Im Schlossgarten von Blois kam es zu einer Aussprache zwischen den beiden, in der sie sich des gegenseitigen Wohlwollens versicherten. Der Herzog von Mayenne informierte Henri III. über einen Mordanschlag, den sein Bruder planen würde. Der König wollte mit der Ermordung des Herzogs von Guise nicht nur diesem Attentat zuvorkommen, er erhoffte sich durch die Eliminierung von Guise und dessen Bruder dem Kardinal auch eine nachhaltige Schwächung der Liga, doch genau das Gegenteil trat ein.6 Guise dürfte völlig ahnungslos gewesen sein, denn als ihn der König am 23. Dezember 1588 vor einer Ratssitzung zu sich rufen ließ, hegte er keinerlei Argwohn. Auf Befehl von Henri III. wurde der Herzog im königlichen Gemach von fünf Gardisten der königlichen Leibwache erstochen.
The Massacre at Paris
Marlowes Guise entspricht dem, den sich die Elisabethaner vorstellten: Ein rücksichtsloser Machtmensch, von Spanien und dem Papst unterstützt mit dem Ziel den Protestantismus vollständig zu eliminieren. Damals war man in England überzeugt, der Vatikan wolle mit Hilfe der katholischen Herrscher unter allen Umständen die Wiedereinsetzung des Katholizismus als alleinigen Glauben erzwingen. Heute ist bekannt, dass es so eine "katholische Weltverschwörung" nie gegeben hat, doch für die Protestanten des ausgehenden 16. Jahrhunderts war sie ein Menetekel an der Wand.7 In England war Guise bis zum Angriff der Armada 1588 der Erzfeind und das Gesicht dieser Verschwörung.8 Die Unterstützung, die Guise vom Papst und Philipp II. bekam, war allgemein bekannt und wird von Marlowe auch mehrmals angesprochen. Ob er wirklich geplant hatte, England zu überfallen, um Mary Stuart zur Königin zu machen, wie Francis Thockmorton 1583 gestand,9 ist fraglich, erschien den Engländern jedoch plausibel.
Bereits bei seinem ersten Auftreten in [Szene 2] hält Guise einen langen Monolog, in dem er sein Wesen und seine Pläne offenbart. Darin erwähnt er einen besonderen Begriff, der bereits in The Jew of Malta programmatisch verwendet wurde: "My policye hath framde religion."10 Das Wort "policy" wurde in England erstmals im 14. Jahrhundert aus dem Französischen übernommen. Bereits damals – also lange vor Machiavelli – konnte es "Kriegslist", "Notbehelf" oder "Trick" bedeuten. Der Politik wurde in England daher schon früh eine dunkle, verschlagene Seite nachgesagt. "policy" in Form von "Täuschung" dürfte erstmals von Thomas Elyot in Of the Governour von 1531 verwendet worden sein. In der elisabethanischen Ära wurde sie mit der positiven wie negativen Faszination, die Machiavellis Schriften auslösten, ein Leitmotiv in der Literatur.11 Dabei war "policy" die Kunst durch gewissenlose Täuschung seinen eigenen Vorteil zu erlangen.12 In Frankreich wurden eigentlich Katholiken, die Henri III. und danach Henri de Navarre unterstützten von den Anhängern der Liga als "politiques" oder Machiavellisten bezeichnet.13
Im Drama ist Guise der diabolische Ränkeschmied, der vor keinem Verbrechen zurückschreckt. Er schickt Jeanne d’Albret vergiftete Handschuhe, organisiert das Attentat auf Coligny, überredet Charles IX. zum Massaker an den Hugenotten, lässt den Admiral töten, zieht mordend durch die Straßen von Paris und sorgt auch noch für eine Ausbreitung des Massakers auf die Provinz. Vermutlich war Guise der Auftraggeber des Attentats auf Coligny und ganz sicher war er für dessen Ermordung verantwortlich, alles andere entsprach der zeitgenössischen Propaganda.
Nach der Krönung von Henri III. ist es die Demütigung durch den König und seine Mignons, die Guise in Rage versetzt. Im Gespräch zwischen dem Herzog, Épernon und Henri III. in [Szene 19] werden allerdings von beiden Seiten die machtpolitischen Aspekte vorgebracht. Guises Ambitionen führt Marlowe ebenso an wie die Behauptung mit dem Königshaus verwandt zu sein, die finanzielle und personelle Unterstützung durch Spanien und den Papst oder den Rückhalt der Pariser Bevölkerung.
Guise fällt aus zwei Gründen. Der erste, der marlowsche, ist der Glaube an seine eigenen Fantasien von staatlicher Macht. Der zweite, der machiavellistische, ist das Versagen Fortunas Gelegenheit beim Schopf zu packen.14 Seine Ermordung wird vom Standpunkt der Heiligen Liga und nicht der Hugenotten gezeigt. Marlowe lässt den Herzog erst töten, nachdem dieser vom König versichert bekommen hat, dass keine Gefahr droht. Auch bei der Strangulation des Kardinals scheint es, als würde die Sympathie eindeutig auf das Opfer gelenkt. Tatsächlich sind die beiden Morde Echos der vorangegangenen Ermordung Colignys, den die Guisen in Sicherheit wiegten, bevor sie ihn umbrachten. Das Attentat auf Henri III., das – entgegen den Tatschen – kurz nach Guises Tod stattfindet, zeigt eine weitere Parallele: "The change emphasizes both the Guises fatal pride and Henry’s bad faith, hot versus cold Machiavellism."15
Theaterhistorisch ist Guises Ermordung von besonderem Interesse. Abgesehen von Thomas Prestons Cambyses wo es mit Cruelty und Murderer zwei allegorische Figuren gibt, die den Befehl des Königs Cambyfes ausführen, tritt bei Marlowe erstmals seit den Mysterienspielen eine Gruppe von Mördern und nicht nur ein Mörder auf.16
The Jew of Malta
Gleich zu Beginn des Dramas erwähnt Machiavellis Geist den Herzog von Guise, der bis zu seinem Tod diesen Geist beherbergt zu haben scheint.
"Albeit the world thinke Machevill is dead,
Yet was his soule but flowne beyond the Alpes,
And, now the Guize is dead, is come from France,
To view this Land, and frolicke with his friends."17
Barabas wird später den Begriff "policy" in derselben Bedeutung verwenden, wie Guise es in seinem großen Monolog in The Massacre at Paris tut. Auch in Ihrem Scheitern sind die beiden Dramenfiguren einander ähnlich.
"We must note that the cause of the Guise’s downfall is similar to what destroy Barabas: his inability to cope with the ordinary human emotions, […] The Guise, master of policy, is destroyed when he allows the passion which the man of policy must control to defeat his own policy."18
- Jouanna (2007)↩︎
- Knecht (2000)↩︎
- Knecht (2000)↩︎
- Bell (1989)↩︎
- Jensen (1964)↩︎
- Wilkinson (2004)↩︎
- Smith (1967)↩︎
- Dickens (1974)↩︎
- Parker (2008)↩︎
- The Massacre at Paris. 2,65↩︎
- Orsini (1946)↩︎
- Scott (1984)↩︎
- Holt (1995)↩︎
- Hammill (2008)↩︎
- Briggs (1983), 265↩︎
- Blass (1913)↩︎
- The Jew of Malta. Prologue,1-4↩︎
- Ribner (1963), 106↩︎