Zu Beginn 1593 wurde London von einer Pestepedemie heimgesucht. All jene, die die Möglichkeit hatten, zogen sich auf Land zurück. So auch Marlowe, der nach Scadbury zu Thomas Walsingham ging. Der Ausbruch der Pest bedeutete stets auch massive ökonomische Veränderungen. Die kaufkräftige Kundschaft hatte die Stadt verlassen, die Nachfrage sank und somit auch der Umsatz. Hinzukamen schlechtes Wetter, Gerüchte von einer erneute bevorstehenden spanischen Invasion, verstärkte Verfolgung von Schismatikern und steigende Arbeitslosigkeit.1 Am 31. März 1593 gestattete das Parlament, trotz Gegenstimmen unter anderem von Walter Raleigh, eine Erweiterung der Privilegien für ausländische Kaufleute. Der Krieg in den Niederlanden und die Religionskonflikte in Frankreich sorgten in Englands Hauptstadt für einen stetigen Strom von Immigranten – absolut nicht zur Freude der Londoner, die für ihre fremdenfeindliche Einstellung bekannt waren. Mitte April tauchte ein Plakat auf, das ankündigte Londons prügelfreudige Lehrlinge würden sich demnächst die Ausländer vornehmen. Der Privy Council reagierte mit einem Brief an den Oberbürgermeister, in dem er seine Besorgnis ausdrückte. In den kommenden Tagen erschienen weitere Pamphlete, die vor allem gegen niederländische Einwanderer gerichtet waren. Auf Befehl der Königin wurde daher eine Sonderkommission ins Leben gerufen, die die Urheber dieser Schmähschriften mit allen Mitteln ausfindig machen sollte. Tatsächlich lebten in London damals inklusive Kinder und Dienerschaft 4.300 Zuwanderer, was einen Immigrantenanteil von etwas mehr als zwei Prozent ausmachte.2
In der Nacht zum 15. Mai schlug ein Unbekannter ein Flugblatt an die Mauer des Friedhofs der niederländischen Kirch in der Broad Street. Schon beim Titel kam es zu einer Verwechslung A Libell, fixte vpon the French Church Wall, in London Ann.o 1593o. Edward VI. gestattete 1550 Flüchtlingen aus Frankreich und den Niederlanden ihre Religion offen auszuüben, wofür ihnen ausgewählte Gotteshäuser zugeteilt wurden. Die Franzosen bekamen die ehemalige Kapelle des Hospitals of St. Anthony in der Threadneedle Street. Sie brannte während des Großen Feuers von London nieder. Die hugenottische Gemeinde errichtete eine neue Kirche, die 1841 abgerissen wurde, um Platz für die Royal Exchange zu schaffen. Die niederländische Gemeinde traf sich in der einstigen Kirche der Augustiner Mönche in der Broad Street. Das heutige Gebäude steht zwar am selben Platz, stammt allerdings aus 1950, da die alte Kirche während eines deutschen Bombenangriffs 1940 zerstört worden war. Beide Kirchen lagen nur etwa 120 m voneinander entfernt und wurden oft miteinander verwechselt.
Die sogenannte Dutch Church Libel existiert nur mehr als Kopie von ca. 1600.3 Es ist eine Ballade im Blankvers, die aus dreiundfünfzig Zeilen besteht, in vier Strophen unterteilt ist und alle vorangegangen Flugblätter an Hass, Bosheit und Brutalität übertraf. Den Ausländern werden neben den üblichen Stereotypen – Unterwanderung von Gesellschaft, Politik und Religion – vor allem wirtschaftliche Vergehen wie Wucher, Mieterhöhung, Marktmanipulation oder Reduzierung der Arbeitsplätze vorgeworfen.4 Abgesehen davon, dass das Machwerk mit "Tamburlaine" unterzeichnet ist, finden sich darin einige bestenfalls diskrete Anspielungen auf The Jew of Malta und The Massacre at Paris. Marlowe kommt als Autor aus mehren Gründen nicht in Frage. Zunächst einmal liegt die Qualität der Verse weit unter der seinen. Obwohl die breite Öffentlichkeit oder gar die Obrigkeit Marlowe als Verfasser von Tamburlaine höchstwahrscheinlich nicht kannte,5 angesichts der angespannten Lage eine derart provokative Schrift mit Hinweisen auf die eigene Identität zu füllen, wäre äußerst absurd gewesen. Außerdem weilte Marlowe zu der Zeit nicht in London. Zu guter Letzt reagierte die Obrigkeit nicht so, als wäre ihr der Urheber bekannt. Ganz im Gegenteil, der Privy Council ordnete umfassende Hausdurchsuchungen an und ermächtigte zu Verhaftungen und Befragungen auch unter der Folter. Der Grund für diese rigiden Maßnahmen lag vermutlich darin, dass die Londoner Stadtverwaltung in der Vergangenheit bei ausländerfeindlichen Ausschreitungen eher halbherzig gegen die Unruhestifter vorgegangen war.6 Im Laufe der Untersuchungen wurde Thomas Kyd verhaftet. Eventuell arbeitete er zeitweise als Schreiber und geriet deshalb, und nicht weil er für das Theater schrieb, in Verdacht.7 Bei seinen Papieren fand man ein verdächtiges, dreiseitiges Manuskript über den Arianismus, von dem Kyd behauptete, es hätte es von Marlowe.8
Der Affäre um die Dutch Church Libel wird für Marlowes Biografie nur insoweit Bedeutung beigemessen, als sie zur Verhaftung Kyds und in weitere Folge zu der Entdeckung des Manuskripts sowie Kyds Briefen geführt haben dürfte. Marlowe wurde nie ernsthaft als Verfasser des Pamphlets in Betracht gezogen.