Das Leben Eduards des Zweiten von England

1923 wurde Bert Brecht als Regisseur für die Münchner Kammerspiele engagiert. Lion Feuchtwanger riet zu Shakespeare und Caspar Neher malte bereits das Bühnenbild für Macbeth, als man sich anders entschied.1 Brechts erste selbständige Regiearbeit sollte Marlowes Edward II werden. Basierend auf einer Übersetzung von Alfred Walter Heymel (1912) wurde das Stück von Feuchtwanger und Brecht bearbeitet.2 Das Ergebnis kann weder als Übersetzung noch als ein Drama von Christopher Marlowe bezeichnet werden. Etliche Figuren (darunter der ältere Mortimer oder Lightborn) und Handlungsstränge sind gestrichen. Der Text ist erheblich kürzer als das Original, wobei von den ca. 2.000 Zeilen nur an die 350 als tatsächliche Übersetzung des englischen Texts betrachtet werden können.3 Aus Edward II wurde bei Brecht ein Stück über Klassengesellschaft und Machtmissbrauch durch den Staat.4

Das Leben Eduards des Zweiten von England hatte am 19. März 1924 Premiere. Ausstattung und Bühnenbild stammten von Caspar Neher, die Hauptrollen spielten Erwin Faber, Erich Riewe, Oskar Homolka, Hans Schweikart und Maria Koppenhöfer. Das Publikum reagierte wohlwollend, von einem Erfolg konnte allerdings nicht die Rede sein.5 Seit den 1950er Jahren wurde Brechts Fassung aber wiederholt in England und den USA gezeigt.6

Brecht dürfte diesem Werk rückwirkend keine große Bedeutung beigemessen haben, denn er äußerte sich höchsten beiläufig darüber, obwohl in Das Leben Eduards des Zweiten von England eine wichtige Vorarbeit für das Epische Theater gesehen wird.7 Als brechtscher "Gegenentwurf" kann es nicht gelten, denn im deutschsprachigen Raum wusste kaum jemand von der Existenz Marlowes und noch weniger hatten je etwas von Edward II gehört, geschweige denn es gelesen.8 Wahrscheinlich war dies einer der Beweggründe, warum Brecht ein Drama von Marlowe und nicht von Shakespeare aussuchte. Im deutschsprachigen Raum herrschte ein von der Romantik errichtetes Shakespearebild, das die neueren Strömungen im Theater nicht länger zu akzeptieren bereit waren, was Brecht offen aussprach:

"Wir wollten eine Aufführung ermöglichen, die mit der Shakespearetradition der deutschen Bühnen brechen sollte, jenem gipsig monumentalen Stil, der den Spießbürgern so teuer ist."9

Da die shakespeareschen Dramen hinlänglich bekannt waren, konnte das "Ursprüngliche", bzw. "Neue" leichter an einem unbeachteten Werk demonstriert werden. Dass Brecht sich dabei weit von Marlowe entfernte und die Neuerungen weniger mit dem elisabethanischen Theater als mit dem brechtschen zu tun hatten, versteht sich von selbst,10 denn:

"Brecht wrote a pastiche based on Marlowe’s play and more loosely on works by Shakespeare which he intended his audience to take as an authentic Renaissance history play."11


Brecht, Bertolt. 1993. Schriften 3. Vol. 23. Werke. Große Kommentierte Berliner Und Frankfurter Ausgabe. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

  1. Melchinger, Nicolaus, and Munk (1968)↩︎
  2. (Grimm 1993). Zu den unterschiedlichen Versionen siehe Weisstein (1970)↩︎
  3. Laboulle (1959)↩︎
  4. Willis (1998)↩︎
  5. Grimm (1993)↩︎
  6. Willis (1998); Marlowe (1994)↩︎
  7. Levin (1964); Grüninger (1969)↩︎
  8. Gaston (2003)↩︎
  9. Brecht (1993), 244↩︎
  10. Pfister (1974)↩︎
  11. Gaston (2003), 358↩︎

 


Aktualisiert am 18.01.2023

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