Interessanterweise erlangten die geheimdienstlichen Tätigkeiten erstmals im elisabethanischen England eine noch nie dagewesene politischer Bedeutung. Das ist umso verwunderlicher, wenn man bedenkt, dass die geografische Lage einen Geheimdienst für die Verteidigung nicht lebenswichtig machte. Hauptaufgabe der Spione auf dem Kontinent war es, die militärische Stärke und etwaige Kriegsabsichten des Gegners zu erkunden, damit man auf einen eventuellen Einfall vorbereitet war. Eine Invasion zur See war jedoch weitaus offensichtlicher als eine zu Lande.1 Natürlich gab es eine ganze Menge Leute, die direkt für die englische Krone oder königliche Berater arbeiteten, aber keiner verfügte auch nur annähernd über die Fähigkeiten und Kontakte von Francis Walsingham. Für ihn waren über fünfzig Informanten in etwa vierzig verschiedenen Städten von – Rom bis Amsterdam und von Konstantinopel bis Lissabon – tätig, doch so etwas wie ein fester Stab existierte nicht. Spion war eine Nebenbeschäftigung, denn fast kein Agent erhielt ein reguläres Einkommen. Die meisten wurden je nach Bedarf beschäftigt und die Bezahlung war von der Natur des Auftrags abhängig. Anfänglich bestritt Walsingham sämtliche Kosten aus eigenen Mitteln. Erst 1582 bewilligte die Krone ihm einen jährlichen Etat von 750 Pfund. Drei Jahre danach belief sich die Summe bereits auf 2.000 Pfund.2
In Ermangelung von Massenmedien waren viele der Informationen, die Walsingham archivierte, von der Art, wie man sie jetzt in Zeitungen lesen kann. Es versteht sich von selbst, dass sich sein Wissen nicht nur über ausländische Bürger und Würdenträger erstreckte. Die Grenzen zwischen Geheimdienst, der übrigens erst nach 1603 als "Secret Service" bezeichnet wurde,3 und Geheimpolizei war bereits im 16. Jahrhundert fließend. Von Beginn setzte man auf die Mitarbeit von Schriftstellern. (Einer Tradition, die bis in die Gegenwart andauert, wie man bspw. aus den Biografien von Daniel Defoe, Somerset Maugham, Graham Greene oder Frederick Forsythe weiß.)
"They were intelligent, educated, observant young men. They knew the international language, Latin, and the literary tastes of the day gave them a good smattering of French and Italian. They were mobile people: geographically mobile – young men disposed to travel and see the world – but also socially mobile. In a class-ridden society, the literary demi-monde floated free, touching at once the back street of London and the heights of the nobility."4
Das Sammeln von Nachrichten war jedoch nicht Walsinghams einzige Aufgabe. Nichts macht eine Armee so notwendig, wie ein Krieg. Einem Geheimdienst geht es ähnlich. Wenn es keine geplanten Verschwörungen, Attentatspläne, Putschversuche gibt, wird ein Agent ganz schnell arbeitslos. Walsingham sah sich gezwungen seine Existenz, aber vor allem die Notwendigkeit der Summen, die ihm zur Verfügung stand, zu rechtfertigen. Hinzu kam, dass die bezahlten Zuträger dazu neigten, Informationen zu kreieren, um so zu einem entsprechenden Entgelt zu kommen. Damals war man überzeugt, der Vatikan wolle mit Unterstützung der katholischen Herrscher unter allen Umständen die Wiedereinsetzung des Katholizismus als alleinigen Glauben erzwingen. Heute ist bekannt, dass es so eine "katholische Weltverschwörung" nie gegeben hat, doch für die Protestanten des ausgehenden 16. Jahrhunderts war sie ein Menetekel an der Wand.5
"In ganz Europa suchte jeder eine Gelegenheit sich im Kampf für die eigenen Interessen, für die eigene Klasse oder für seinen Gott zu bewähren. Die Folge war, dass die Häuser der Diplomaten in Antwerpen, London, Paris und Amsterdam zu Zufluchtsstätten für unzufriedene Elemente wurden und dass die Gesandten die agents provocateurs des Verrats wurden."6
Es gehörte zu Walsinghams einzigartigem Talent, die ungeahnten Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, gekonnt zu nutzen. Er erschuf mit Hilfe von Lockspitzeln Bedrohungen für den Staat, die ohne sein Zutun vielleicht gar nie existent geworden wären, um sie dann zu beseitigen und politischen Vorteil daraus zu ziehen. Sein Meisterstück war die sogenannte Babington-Verschwörung, die in der Exekution Mary Stuarts mündete.
Etliche von Walsinghams Spionen verbrachten einen ansehnlichen Teil ihrer Zeit in Gefängnissen, vor allem in englischen. Einerseits schickte man sie bewusst dorthin, um Informationen zu sammeln. Andererseits konnte ein damaliger Agent seine eigentliche Tätigkeit recht schwer nachweisen und selbst für die Obrigkeit war nicht immer ersichtlich, wer da wen ausspionierte. Der loyale Informant von heute, konnte morgen schon ein niederträchtiger Verräter sein. In politisch instabilen Zeiten, wie im ausgehenden 16. Jahrhundert war es gut, nach allen Seiten abgesichert zu sein.
"You have to take it as a kind of theatre, a political house of games, in which everything is potentially different, potentially reversible. Friends change suddenly into enemies. Patriots are revealed as traitors, and then with a flick of the wrist they are patriots again, […]"7
Noch dazu wo man nicht aus Patriotismus, sondern um des Geldes willen spionierte. So entstand etwa in Sir Edward Stafford, der 1583 englischer Botschafter in Paris wurde, der erste bekannte Doppelagent der Neuzeit.8 Doch auch Walsingham verstand es seine Gegner zu täuschen. Die Männer, die er gegen die Katholiken eingesetzte, waren oft selbst katholisch. Eines ihrer wichtigsten Operationsgebiete war das Katholische Seminar in Reims.
Das Schreiben des Privy Councils an das Corpus Christi College in Cambridge bescherte Christopher Marlowe nicht nur seinen akademischen Grad, sondern Jahrhunderte später einen ganz speziellen Nachruhm, da es die Basis für die Vorstellung von Marlowe als Geheimagent im Dienste Ihrer Majestät bildet. Nicht allein neuzeitliche Romanautoren auch Wissenschaftler sehen in ihm einen Vorläufer von James Bond, der sich entschied, neben seiner Karriere als Dichter einen zweiten Berufsweg einzuschlagen.9 Nur war Geheimagent, wie erwähnt, kein etablierter Berufszweig und hatte wenig bis nichts mit dem zu tun, was man heute unter diesem Begriff versteht. Wenn es so etwas wie eine Geheimdienstaktivität von Marlowe gegeben hatte, dann entsprach sie vermutlich am ehesten der, die laut Frederick Forsyth zahlreich Freiwillige für den britischen Geheimdienst ausführen:
"Sie stammen aus den unterschiedlichsten Berufssparten, die alle mit Reisen verbunden sind. Sie können sich vielleicht bereit erklären, während einer Geschäftsreise ins Ausland ein Päckchen abzuholen, einen Umschlag in einen toten Briefkasten zu hinterlegen, eine Zahlung vorzunehmen oder einfach nur die Augen und Ohren offen zu halten und sich bei der Heimkehr einer freundlichen Nachbesprechung zu unterziehen."10