Stilometrie

Dabei handelt es sich nicht – wie man auf Grund der Etymologie vermuten könnte – um das Abmessen von Bleistiften, sondern um eine Methode der Textanalyse. Als ersten Stilometriker könnte man Lorenzo Valle bezeichnen, der um 1440 durch stilistischen Vergleiche die Fälschung der Konstantinischen Schenkung feststellte. Der Begriff selbst wurde 1890 vom polnischen Philosophen Wincenty Lutosławski eingeführt. Drei Jahre zuvor stellte der Physiker T. C. Mendenhall die Theorie auf, dass Verfasser einige Aspekte ihres Schreibstils unbewußt einsetzen. Dieser Teil sei mit naturwissenschaftlichen Methoden zu erfassen, da die unwillkürlichen Merkmale für jeden Schreiber so individuell wie dessen Fingerabdrücke seien. Von nun an dürfte es demnach wesentlich leichter sein, anonyme Texte dem jeweiligen Autor zuzuschreiben. Mendenhall beschäftigte Leuten, die sowohl die Anzahl der Wörter als auch deren Länge in Werken englischsprachiger Schriftsteller abzählten, um die Ergebnisse miteinander zu korrelieren. Die Methode an sich ist recht einfach. Man nimmt zwei unterschiedliche Werke, die durchaus von einem Autor stammen können. In jedem werden Wörter gleicher Länge gezählt. Aus der Reihe der Summen errechnet man dann den Pearsonschen Korrelationskoeffizienten.1

Der Wertebereich für r lautet übrigens  − 1, 0 ≦ r ≦ 1, 0. Demnach bedeutet r = 1 die höchste, r =− 1 die geringste Übereinstimmung.

1901 entdeckte Mendenhall: "[…] that in the characteristic curve of his plays Christopher Marlowe agrees with Shakespeare about as well as Shakespeare agrees with himself, as is shown in Fig. 9."2

Mendenhall (1901), 105

Die Stilometrie hat sich seither enorm entwickelt und um einige Bereiche wie die Plagiatsüberprüfung oder die forensische Linguistik erweitert. Mendenhall erfreut sich nach wie vor bei den Marlovians großer Beliebtheit, die gerne daheim am Œuvre von Marlowe und William Shakespeare herumrechnen. Ich habe versucht einige ihrer Berechnungen nachzuvollziehen. Als ich immer zu anderen Ergebnissen kam, beschloss ich die Untersuchungsmethode per se auf die Probe zu stellen. Das Resultat war: Shakespeare hat mit größerer Wahrscheinlichkeit das Drehbuch zu The Usual Suspects verfasst als Romeo and Juliet. Anders ausgedrückt: Das Zählen von Buchstaben und Wörtern in aus dem Internet heruntergeladenen Dramentexten mittels eines Textverarbeitungsprogramms liefert keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Wobei das nicht ganz richtig ist. Nach Stunden des Wörterzählens kann ich mit Gewissheit sagen: In der vorliegenden Form ist The Massacre at Paris das kürzeste, Edward II hingegen das längste Drama Marlowes. Nur hätte mir das ein Blick in die Konkordanz3 ebenfalls verraten. Forensische Linguistiker und Stilometriker wie Thomas Merriam oder Hartmut Ilsemann greifen auf technisch diffizile Mittel zurück, mit deren Resultaten sie sehr wohl im Rahmen der Wissenschaft umzugehen wissen. Dennoch habe ich grundsätzliche Probleme mit der Stilometrie. Meine Skepsis bezieht sich weniger auf die Methode, als auf die tatsächliche Verwertbarkeit der Ergebnisse. George Coffin Taylor stellte bspw. fest, "now" ist häufig das erste oder zweite Wort in vielen Versen Marlowes. Er maß dieser Eigenheit soviel Bedeutung zu, dass er es als typisches stilistischem Merkmal des Autors ansah und vorschlug, es zur Klärung der Autorenschaft heranzuziehen. Basierend auf den Zahlen Taylors wird das Wort durchschnittlich 43,29 Mal in einem Drama Marlowes in dieser Funktion verwendet. Bei Shakespeare beträgt der Durchschnitt 29,35. Allerdings beginnt kein Stück Marlowes mit dem Wort, bei Shakespeare hingegen sind es drei4. Weiters tritt in sechs Dramen Shakespeares5, die vor oder um 1593 entstanden sein sollen, "now" am Versbeginn öfter als 40 Mal auf. Taylor hat bestimmt recht, wenn er 303 Verse Marlowes gefunden hat, die ein "now" im Anfang haben, allerdings konnte er daraus nicht ableiten, ob die Verwendung dieses Wortes Zufall, Absicht oder überhaupt Marlowes eigenes Tun war.

"Perhaps the most fascinating, if puzzling, aspect of the matter is, whether the frequency of the occurrence of this now is due to Marlowe’s extreme haste in writing, his unconscious carelessness in the use of it, or whether it is due in part to the actor, Alleyn, being responsible for it. He may possibly […] introduced it into lines in which Marlowe never wrote it. He could make it either a monosyllable or a dissyllable, and by so doing have time to remember what followed."6

Der Blankvers begann sich im öffentlichen Theater gerade erst zu etablieren, als Marlowe sich seiner bediente. Vielleicht hatte er manchmal Probleme mit dem Versmaß und es fehlte ihm eine Silbe. Im Gegensatz zur stilometrischen Theorie der Funktionswörter7 hätte Marlowe in diesem Fall das "now" ganz bewusst eingesetzt. Das würde auch erklären, warum bei Shakespeare die Tendenz zur Verwendung fallend ist. Je mehr Übung er im Umgang mit dem Metrum hatte, desto weniger brauchte er Füllwörter. Genauso kann es bedeuten, dass Marlowe die shakespearschen Dramen verfasst hat, bzw. umgekehrt, da Shakespeares Werke mit der höchsten Anzahl von "nows" am frühesten datiert werden. Marlowes Helden verschwenden keinen Gedanken an morgen, sie alle leben im Jetzt. Möglicherweise soll die Häufung von "nows" genau das unterstreichen. Letztlich ist der einzig belegbare Rückschluss aus Taylors Analyse der, dass 303 Verse Marlowes im Anfang ein "now" haben.
Meiner Meinung nach, entzieht sich das literarische Schaffen einer Epoche, in der Ambivalenz ein Zeitgeist8, Kollaboration alltäglich war, Imitation geradezu verlangt, Analogie gegenüber Individualismus verstärkt, sowie nachträgliches Verändern nicht hinterfragt wurde9 und deren Texttradierung höchst komplex ist, statistischen Untersuchungsmethoden, die stilistische Häufungen als unbewussten Ausdruck der Individualität eines Verfassers betrachten.


Masten, Jeffrey. 1997. “Playwrighting: Authorship and Collaboration.” In A New History of Early English Drama, edited by John D. Cox, 357–82. New York: Columbia University Press.
Mendenhall, Thomas Corwin. 1887. “The Characteristic Curves of Composition.” Science 9 (214): 237–46. https://doi.org/10.1126/science.ns-9.214S.237.
———. 1901. “A Mechanical Solution of a Literary Problem.” Popular Science Monthly 60 (7): 97–105.
Mosteller, Frederick, and David L. Wallace. 1964. Inference and Disputed Authorship: The Federalist. Reading: Addison Wesley.
Patterson, Annabel M. 1991. Censorship and Interpretation: The Conditions of Writing and Reading in Early Modern England. 2nd Ed. Madison: University of Wisconsin Press.

  1. Mendenhall (1887)↩︎
  2. Mendenhall (1901), 105↩︎
  3. Ule (1979)↩︎
  4. Richard III, King John und A Midsummer Night’s Dream↩︎
  5. 2 Henry VI, 3 Henry VI, 1 Henry VI, Richard III, Titus Andronicus und The Taming of the Shrew↩︎
  6. Taylor (1945), 100↩︎
  7. Mosteller and Wallace (1964)↩︎
  8. Patterson (1991)↩︎
  9. Masten (1997)↩︎

Aktualisiert am 18.01.2023

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