Die seriöse Literatur über Christopher Marlowe hat seit geraumer Zeit einen Teil ihrer Seriosität eingebüßt. Das bedeutet nicht, dass alle diese Werke in ihrer Gesamtheit wissenschaftlich unbrauchbar sind. Ebenso wenig gehören eigene Thesen und Spekulationen aus der Wissenschaft verbannt. Nur werden diese kaum mehr als solche bezeichnet und verdrängen immer weiter faktenbasierte Erkenntnisse. Es sind längst nicht mehr nur Belletristiker und Dramatiker, die
"[…] in the spirit of Genet, portray the homosexual outsider, challenger of convention, and opponent of a dehumanizing orthodoxy – a champion who all feel rebellious can applaud. In doing so, these authors probably wrest history to suit their own ends by portraying the Elizabethan backstage world as a hotbed of sexual laissez-faire and experimental lifestyles."1
Biografien über Christopher Marlowe sind zu Mythografien geworden.2 Eigene Schlussfolgerungen werden als zwingende Notwendigkeiten oder Tatsachen präsentiert. Eine Methode, die J. A. Downie als "‘must-have’ theory of biography"3 bezeichnet. Leider üben diese Mythografien eine enorme Anziehungskraft aus und der Marlowe, den sie konstruieren, lässt sich viel besser verkaufen.4 Der soziale Überflieger mit der charakteristischen Frisur aus dem Cambridge-Portrait, ein Freigeist mutig wie Tamburlaine, verschlagen wie Barabas, tragisch wie Faustus, der in der Schule der Nacht seinen Atheismus verteidigte, unerschrocken für die gleichgeschlechtliche Liebe eintrat, darüber hinaus auch ein findiger, in alle möglichen Intrigen verwickelter, Spion war und nebenbei noch die Zeit fand als Dramatiker Erfolge zu feiern – das ist der Stoff aus dem Bestseller, Filme und PTV-Serien sind. Der Sohn eines Schusters, mit einem Stipendium für Cambridge, dessen Name in einigen Akten auftaucht, der um Geld zu verdienen Dramen schrieb, die kaum jemand mit seiner Person in Verbindung brachte, dessen Lyrik hingegen von seinen Zeitgenossen gewürdigt wurde und von dem wir weder wissen, wie er aussah noch mit wem er privat verkehrte, welche Ansichten er vertrat und wie sich sein Gefühlsleben gestaltete, kann da nicht mithalten, aber das ist der Stoff, aus dem die Wissenschaft ist.
Das ist eine Auflistung der populärsten Christopher Marlowe-Mythen. Für einige gibt es eine eigene Seite, diese werden daher hier nur kurz behandelt.
Es gibt ein Porträt von Christopher Marlowe.
Mag sein, dass irgendwo eines hängt, nur weiß bis dato niemand davon. Es gibt zwei Portraits, von denen behauptet wird, sie zeigen Marlowe. Das berühmtere ist das Cambridge-Portrait, das andere ist das Grafton-Portrait. Sie bilden jeweils einen jungen Mann ab, der damals in Marlowes Alter war. Ansonsten haben sie nur noch gemeinsam, dass man nicht feststellen konnte, wen sie darstellen. Wir haben nicht die geringste Ahnung, wie Marlowe ausgesehen hat.
Christopher Marlowe war ein Mitglied der Schule der Nacht.
Nein. Diese angeblich Vereinigung von Freigeistern hat es nie gegeben. Die Schule der Nacht ist eine Erfindung, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert populär war.
Christopher Marlowe war ein Spion.
England hatte damals bereits einen recht effektiven Geheimdienst, der allerdings nicht dem entsprach, was man sich heute landläufig darunter vorstellt. Es gibt zwei Dokumente, die dahingehend interpretiert werden könnten, dass Marlowe für ihn tätig war. Falls es sich so verhielt, dürften es eher banale Aufträge gewesen sein und Marlowe war als Geheimagent wohl nicht sehr erfolgreich, immerhin blieb seine Tätigkeit nicht geheim.
Christopher Marlowe war Atheist.
Im heutigen Sinne trifft das eindeutig nicht zu. Die Elisabethaner hatten allerdings ein gänzlich anderes Verständnis von Atheismus. Aus dem ausgehenden 16. Jahrhundert betrachtet, könnte man in Marlowes Werken Anzeichen davon finden. Aus den Reaktionen nach seinem Tod, lässt sich ableiten, dass er bei einigen seiner Zeitgenossen einen anrüchigen Ruf hatte. Das sagt jedoch nichts über seinen tatsächlich Glaubenseinstellung aus. Die ist uns unbekannt.
Christopher Marlowe war homosexuell.
So wie die Ende des 16. Jahrhunderts Atheismus anders definiert wurde, verhält es sich auch mit der Homosexualität, wobei das eine viel komplexere Materie ist. Damals existierte nicht einmal so etwas wie eine Idee von einer homosexuellen Minderheit, die vielleicht auch noch um ihre Akzeptanz kämpfte. Begriffe und Verhaltensweisen, die wir heute mit Homosexualität in Verbindung bringen würden, bedeuteten damals etwas völlig anderes. Bis dato ist kein Schriftstück aufgetaucht, das uns einen verlässlichen Hinweis auf Marlowes Intimleben gibt. Kurz nach seinem Tod entstand jedoch das Gerücht, seine Beziehung zu einer Frau hätte zu seiner Ermordung geführt.
Marlowes Dramen verraten uns etwas über die Person Christopher Marlowe.
Nein. Marlowe war nicht Lord Byron. Die Elisabethaner waren nicht die Prototypen der englischen Romantiker, auch wenn sie im späten Viktorianismus gerne so betrachtet wurden. Um 1590 war Schreiben kein Selbstfindungsprozess, Dramen hatten einen viel geringeren Stellenwert als Lyrik, das Recht am eigenen Werk in heutigen Form war unbekannt und der Individualismus hatte längst nicht die Wichtigkeit, die wir ihm jetzt beimessen.5 Aber betrachten wir einige andere Dramatiker dieser Epoche, vielleicht war der Biografismus stärker vertreten als angenommen. Hieronimo beißt sich die Zunge ab, damit er unter der Folter nichts preisgeben kann. Demnach müsste der Verfasser von The Spanish Tragedy in einer ähnlichen Situation dasselbe tun, doch Thomas Kyd hat in dieser Hinsicht kläglich versagt. Marlowe schrieb eine Historie über Edward II., deshalb liebte er Männer. In The Merchant of Venice steht Bassanios Liebe zu Antonio über der zu seiner Frau Portia, aber William Shakespeare war nicht homosexuell. Pandosto versucht seine Tochter zu töten und verliebt sich später in sie, aber Robert Greene wird weder Kindsmord, Inzest noch Pädophilie unterstellt. Marlowe lässt Faustus den Teufel beschwören, deshalb war er Atheist. (Was an und für sich schon ein Unsinn ist, weil Satanisten ganz sicher keine Atheisten sind. Immerhin huldigen sie dem Widersacher Gottes. Würden sie nicht an die Existenz Gottes glauben, gäbe es auch keinen Widersacher.) Fitzdottrel nimmt in The Devil Is an Ass einen Teufel als Diener auf, aber Ben Jonson war kein Atheist. Auch über John Ford wurde derlei nie behauptet, obwohl Elizabeth Sawyer in The Witch of Edmonton dem Teufel ihre Seele verkauft. Ein Blick in die Tragödien John Websters lässt für seine Familie hoffen, dass er keinerlei Ähnlichkeiten mit seinen Figuren hatte. Marlowes Dramen verraten uns eine ganze Menge, nur nicht über ihn selbst.
"Christopher Marlowe never had problems with the Revels Office. He was certainly the most radical and unconventional dramatist of the Elizabethan era, and his plays showed scant respect for the established orthodoxy of his day. […] Yet all of this found its way on to the stage and eventually into print, with no apparent hindrance from Tilney or the Bishops' censors."6
Soweit nachvollziehbar gingen die Genehmigungsstellen und Zensoren mit den Texten Shakespeares so um wie mit denen Marlowes.7 Nichts weist darauf hin, dass Marlowes Karriere als Dramatiker den Privy Council überhaupt interessierte. Auch nach Marlowes Tod wurde nichts gegen die Verbreitung seiner Werke unternommen. Ganz im Gegenteil sie wurden weiter erfolgreich aufgeführt und gedruckt.8 Wären diese Dramen tatsächlich die Manifestation von Marlowes Atheismus, Häresie, Homosexualität und Subversion, dann wüsste heute keiner mehr von ihnen, denn sie wären weder auf die Bühne noch in eine Druckerpresse gelangt.
Christopher Marlowe war ein gewalttätiger Charakter.
Aus heutiger Sicht war die Mehrheit der Menschen im Europa des 16. Jahrhunderts gewalttätig, daher war sein Verhalten gemessen an dem seiner Zeitgenossen keineswegs auffällig. Dennoch werden Marlowes Gerichtsakten gerne herangezogen, um seinen rabiaten Charakter zu bestätigen.9 Es gibt Dokumente, die darauf hindeuten, dass Marlowe zweimal seine Schulden nicht gezahlt hat.10 Das heißt nicht, er wäre immer in finanziellen Schwierigkeiten und prinzipiell ein säumiger Zahler gewesen. Wie heute so wurden auch vor fünfhundert Jahren nur Handlungen und Ereignisse dokumentiert, die von der Norm abwichen. Basierend auf einigen wenigen Aufzeichnungen ein generelles Verhaltensmuster abzuleiten, stellt eine sehr simplifizierte Verallgemeinerung dar.
Christopher Marlowe starb bei einer Wirtshausrauferei.
Nein. Christopher Marlowe starb in Deptford im Haus der Eleanor Bull, einer respektablen Dame, mit Verbindungen zur Hofgesellschaft. Nach dem Tod ihres Mannes bot sie gegen Entgelt Kost und Logis an, ähnlich einem heutigen Bed & Breakfast.