Christopher Marlowe im deutschsprachigen Raum

Percy E. Pinkerton fasste 1885 in Werkausgabe Marlowes Stellungswert im In- und Ausland zusammen:

"Marlowe has not yet got the ear of Europe. In England even, few comparatively give him high regard ; abroad, he still counts as a barbarian. Germans may sympathize, perhaps, with one who first touched their great Faust-legend ; the French have never seen more in him than a wild pioneer and road-breaker for Shakespeare. A distinguished modern Italian poet and critic, in verses made by him while reading Marlowe, expressed the belief that his author seemed to have been inspired by the fumes of beer.1 Truly a fine criticism, a subtle inference this, to deem all Marlowe’s 'mighty lines' as but the outcome of beer! From such a singular judgment we may conclude that foreigners, with their curious slowness to appreciate any Anglo-Saxon poets but Byron and Shakespeare, have not yet got at the true Marlowe."2

An Pinkertons Beobachtung von 1885 hat sich nicht wirklich viel geändert. Vergleicht man allerdings die Rezeptionsgeschichte Marlowes im deutschsprachigen Raum mit der in anderen europäischen Ländern – ausgenommen England natürlich – schneiden Österreich und Deutschland gar nicht so schlecht ab. In Frankreich wurde man durch François-Victor Hugos Übersetzung von Doctor Faustus (1858) und Alfred Jean François Mézières Contemporaines et Successeurs de Shakespeare (1863) auf Marlowe aufmerksam. Bereits 1889 gab es eine französische Übersetzung sämtlicher Dramen von Félix Rabbe. Zwar stellte Arturo Graf den Italienern Doctor Faustus schon 1878 in seinen Studii drammatici vor, die Übersetzung von Eugenio Turiello erschien aber erst 1898. Dann dauerte es sechzehn Jahre bis mit Edward II von Raffaele Piccoli ein weiteres Drama Marlowes ins Italienische übersetz wurde. Spanien, die Niederlande, Dänemark, Schweden und Polen lernten überhaupt erst in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts Marlowe in der jeweiligen Landessprache kennen.3

Es gibt Anzeichen für einen frühen Kontakt des deutsche4 Publikums mit Marlowe. In Frankfurt soll eine englische Wandertruppe 1592 Dramen von ihm gezeigt haben.5 Ende der 1590er Jahre könnte es auch Vorstellungen in Nürnberg gegeben haben.6 Erzherzog Ferdinand berief 1607 eine Truppe englischer Schauspieler unter der Leitung von John Green an den Grazer Hof. Als er zum Reichstag nach Regensburg aufbrach, begleiteten sie ihn zumindest bis Passau, wo sein Bruder Leopold als Bischof residierte. Dort führten sie unter anderem Ende November die Comedi von dem Juden – mit ziemlicher Sicherheit The Jew of Malta – auf. Im Jahr darauf wurde in Graz die Verlobung von Maria Magdalena, einer Schwester Ferdinands, mit Cosimo II. de' Medici, dem Großherzog der Toskana, gefeiert. Während dieser Zeit spielte Greens Truppe wieder in Graz. Maria Magdalena schrieb an ihren Bruder: "am Sonntag haben sy gehabt von dem dockthor Faustus, […] am pfingsttag haben sy die von dem Juden gehalten, die sie auch zu passau gehalten haben; […]".7 Die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest Teile der Stücke in Übersetzung gezeigt wurden, ist groß. Beide Dramen hielt sich im deutschsprachigen Raum. Greens Truppe zeigte Doctor Faustus neben The Jew of Malta 1626 in Dresden und im Mai 1651 ersuchte in Prag Johann Schilling um diese beiden Dramen aufführen zu dürfen.8 Im Laufe der Zeit verschmolzen bei den Darbietungen mehrere Stücke und unterschiedliche Handlungsstränge zu einem neuen Werk, das durch Übersetzung oder Bearbeitung zusätzlich verfremdet wurde, wie bspw. das Bühnenmanuskript Comoedia Genandt Dass Wohl Gesprochene Uhrtheil Eynes Weiblichen Studenten oder Der Jud Von Venedig zeigt. Es stammt vom Ende des 17. Jahrhunderts und enthält unter anderem Elemente aus The Jew of Malta und The Merchant of Venice.9 Bis zur Unkenntlichkeit entstellt, geriet Barabas irgendwann in Vergessenheit. Faustus hingegen blieb dem Volksschauspiel und dem Puppentheater erhalten. In wie weit Johann Wolfgang von Goethe von Marlowes Drama wusste bzw. es für seinen Faust berücksichtige, soll an anderer Stelle behandelt werden. Gotthold Ephraim Lessing war sich dem Ursprung laut seinem seinem 17. Literaturbrief von 1759 bewusst.

"Daß aber unsre alten Stücke wirklich sehr viel Englisches gehabt haben, könnte ich Ihnen mit geringer Mühe weitläuftig beweisen. Nur das bekannteste derselben zu nennen; »Doctor Faust« hat eine Menge Szenen, die nur ein Shakespearesches Genie zu denken vermögend gewesen. Und wie verliebt war Deutschland, und ist es zum Teil noch, in seinen »Doctor Faust«!"10

Der Brief entsprang dem Konflikt zwischen Lessing und Johann Christoph Gottsched, dem kompromisslosen Verfechter der aristotelischen Regeln und der französischen Klassik auf der Bühne, von der er das Wunderbare, das Phantasievolle verbannt haben wollte. Gerade ihm gegenüber lobte Lessing mit Shakespeare und indirekt auch mit Marlowe Autoren, die alles vertraten, was Gottsched ablehnte. Als 1762 mit dem Sommernachtstraum die erste Prosaübersetzung von Christoph Martin Wieland erschien, stieg das Interesse an Shakespeare und seiner Zeit. In den Vorlesungen über die dramatische Kunst und Literatur von 1808 räumte August Wilhelm Schlegel ihm einen überdimensionalen Stellenwert ein. Seinen Zeitgenossen schenkte er nicht einmal einen Bruchteil dieser Aufmerksamkeit. Marlowe widmete er in der 32. Vorlesung gerade mal einen kleinen Absatz:

"Marlowe hatte mehr wahres Talent, und war auf einem richtigen Wege. Er hat die Geschichte Eduards des Zweiten zwar sehr kunstlos, jedoch mit einer gewissen Treue und Einfalt behandelt, so daß manche Auftritte ihre pathetische Wirkung nicht verfehlen, Seine Verse sind fließend, aber ohne Nachdruck; wie Ben Jonson dazu kommt, den Ausdruck 'Marlowe’s mighty line' von ihm zu gebrauchen, begreife ich nicht. Von Lillys süßlicher Manier konnte Shakespeare nichts lernen oder benutzen; in Marlowes Edward dem Zweiten hingegen glaube ich allerdings das schwächere Vorbild der frühesten historischen Stücke Shakespeares zu entdecken."11

Schlegels Meinung nach war das zu wenig, um der Nachwelt im Gedächtnis zu bleiben. Dieses Privileg gestand er neben Shakespeare nur Ben Jonson, Beaumont und Fletcher, sowie Massinger zu. Ebenfalls 1808 übersetzte Karl Ludwig Kannegießer mit The Jew of Malta erstmals ein Drama Marlowes ins Deutsche. Eine Dekade später folgte Doctor Faustus von Wilhelm Müller.

Für die deutschen Romantiker war Shakespeare ein unfehlbarer Gott unter den Dichtern, der seinesgleichen nie hatte und nie haben wird. Schon Jahrhunderte vor der eigentlichen Romantik erkannte er deren wichtigste Stilmittel und setzte sie in seinen Dramen um. Wie sein Werk, so war auch er ein romantischer Dichter: Kontemplativ mit sich und seiner Dichtung beschäftigt, fernab jeglicher Profanität, sein Genie dem Theater, das er doch zu tiefst verachtete, zur Verfügung stellend. Nur der romantischen, deutschen Seele war es erst möglich ihn zu verstehen. Shakespeare wurde zum Helden der Romantik und so zeigte ihn Ludwig Tieck 1825 in seiner Novelle Dichterleben, in der erstmals Christopher Marlowe als fiktive Figur in Erscheinung trat. Dieser "berühmt und berüchtigte"12 Marlowe entsprach nicht Tiecks Ideal, aber als Dramatiker konnte er ihn nicht ignorieren.

"Auch Marlow findet die befriedigende Harmonie des Green in keinem seiner Werke, er will das Ungeheure, Riesenhafte, und fällt darüber oft in das Schwülstige und Wahnsinnige, seine Tragödie ist mehr blutig und grausam als tragisch, es ist oft, als hörte man einen Verrückten faseln, wenn der Dichter seine tragischen Personen gerade die höchsten Töne will anschlagen lassen. Und doch muß selbst die strenge Kritik einräumen, daß sein Jude von Malta ein großartiges Werk, und sein Eduard II fast eine vollendete Tragödie zu nennen sey. Dieser heftige und wahrhaft poetische Geist, […] erreichte die Periode seiner Reife nicht, […] und starb, auch ein Opfer seines ausschweifenden Lebens, auf eine gewaltsame Art."13

Dem deutschen Publikum blieb nichts übrig, als auf Tiecks Meinung zu vertrauen, denn es waren erst zwei Dramen Marlowes übersetzt worden. 1831 erschien dann Edward II in der Übersetzung von Karl Eduard von Bülow. Dafür versuchte Friedrich Bodenstedt14 erstmals 1860 eine Art Gesamtausgabe der Dramen herauszubringen. Abgesehen von Doctor Faustus, der vollständig übersetzt ist, liegen die anderen Stücke in Zusammenfassungen vor, die durch übersetzte Textpassagen ergänzt werden. Auf einen Tamburlaine 1 in Deutsch musste man noch bis zu Margarethe Vöhls Übersetzung15 von 1893 warten.

Aufführungen von Marlowes Dramen fanden und finden auf deutschsprachigen Bühnen kaum bis gar nicht statt. Karel Hilar und Karl-Heinz Martin versuchten sich in Prag bzw. Berlin Anfang der 1920er Jahre an Edward II, ohne nachhaltigen Erfolg. Als Bertolt Brecht 1924 in München eine Bearbeitung desselben Dramas zeigte, konnte er gewiss sein, das der Autor Christopher Marlowe seinem Publikum fast gänzlich unbekannt war. Von 1900 bis jetzt gab es an Wiener Bühnen Edward II und The Jew of Malta in insgesamt fünf Inszenierungen.

Ebenso vernachlässig wird Marlowe in der hiesigen Forschung. In Deutsch liegen abgesehen von eigenen Artikeln weder eine Biographie noch eine Übersetzung seines Gesamtoeuvres vor. 1999 brachte der Eichbornverlag die erste Übersetzung aller Dramen Marlowes heraus.16 Der Einband beeindruckte durch seine geschmackvolle Schlichtheit. Was ein epochaler Meilenstein in der deutschen Marlowe-Rezeption hätte sein sollen, entpuppte sich als dilettantischer Selbstdarstellungsversuch Wolfgang Schlüters, der eindrucksvoll bewies, dass das Wortspiel vom "Traduttore-Traditore"17 nicht nur auf die Librettoübersetzer beschränkt ist. Schlüter tat dem Stil, Versmaß, Inhalt und Sinn der marloweschen Dramen so rohe Gewalt an, wie man sie nicht einmal von der an Grausamkeiten reichen Shakespeare-Übersetzung kennt.

"Was die Übertragung darüber hinaus an Freiheiten sich herausnahm, ist ebenso wohlbedacht und begründet. […] Aus dem Malteser Juden einen Wiener Jid zu machen (der konsequenterweise statt eines »rice-porridge« eine Mehlspeis backt und sich nicht als »french musician«, sondern als ungarischer Primas tarnt), mag dem zärtlichen Sadismus, der dämonischen Gemütlichkeit, mit der wir seit Karl Kraus und Qualitnger vertraut sind, näherkommen […]"18

Man mag sich gar nicht erst vorstellen, wie das Endprodukt ausgesehen hätte, wenn derartige Eingriffe nicht "wohlbedacht und begründet" gewesen wären! Niveau und Qualität teilt diese Übersetzung mit der einzigen deutschen Dokumentation (2011) über Christopher Marlowe. Das Desinteresse des deutschsprachigen Publikums – sei es Leser oder Zuseher – ist angesichts solcher Unternehmungen absolut verständlich.


Carducci, Giosuè. 1893. Delle Odi Barbare. Vol. 2. Bologna: N. Zanichelli.
Honolka, Kurt. 1978. Opernübersetzungen. Zur Geschichte und Kritik der Verdeutschung musiktheatralischer Texte. Vol. 20. Taschenbücher zur Musikwissenschaft. Wilhelmshaven: Heinrichshofen.
Lessing, Gotthold Ephraim. 1970 ff. “Siebzehnter Brief: 16. Februar 1759.” In Werke, edited by Herbert G. Göpfert, 5:69–73. München: Carl Hanser.
Meissner, Johannes. 1884. Die Englischen Comoedianten zur Zeit Shakespeares in Oesterreich. Wien: Konegen.
Mentzel, Elisabeth Schippel. 1882. Geschichte der Schauspielkunst in Frankfurt am Main: Von ihren ersten Anfängen bis zur Eröffnung des Städtischen Komödienhauses. Vol. 9. Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst. Frankfurt am Main: K.T. Völcker.
Schlegel, Wilhelm August von. 1846. August Wilhelm Schlegel’s Sämtliche Werke. Vol. 6. Leipzig: Weidmannische Buchhandlung.
Tieck, Ludwig, ed. 1823. Shakespeare’s Vorschule: Herausgegeben und mit Vorreden begleitet von Ludwig Tieck. Vol. 1. Leipzig: Brockhaus.

  1. Bei dem italienischen Gedicht handelt es sich um Pe 'l Chiarone da Civitavecchia leggendo il Marlowe von Giosuè Carducci.
    "Io leggo ancora Marlowe. Dal reo verso bieco simíle
    a sogno d’uomo cui molta birra gravi,
    d’odii et incèsti e morti balzando tra forme angosciose
    esala un vapor acre d’orrida tristizïa,
    che sale e fuma, e misto a l’aer maligno feconda
    di mostri intorno le pendenti nuvole,
    crocida in fondo a’ fossi, ferrugigno ghigna ne’ bronchi,
    filtra con la pioggia per l’ossa stanche. Io tremo."(Carducci (1893), 120)↩︎
  2. Marlowe (1885), XXXI↩︎
  3. Brooke (1922)↩︎
  4. Falls nicht anders vermerkt, ist damit "deutschsprachig" gemeint.↩︎
  5. Mentzel (1882)↩︎
  6. Castle (1912); Grabau (1913)↩︎
  7. Meissner (1884), 78↩︎
  8. Meissner (1884)↩︎
  9. Meissner (1884)↩︎
  10. Lessing (1970 ff.), 72-73↩︎
  11. Schlegel (1846), 329↩︎
  12. Tieck (1823), XVI↩︎
  13. Tieck (1823), XX↩︎
  14. Marlowe (1858-1860)↩︎
  15. Marlowe (1893)↩︎
  16. Marlowe (1999)↩︎
  17. Italienisch: Übersetzer-Verräter. Kurt Honolka verwendete diese Paronomasie um zu zeigen, dass Librettoübersetzer meist Verräter am tatsächlichen Text und damit auch am Inhalt der Opern sind. (Honolka (1978))↩︎
  18. Marlowe (1999), 535↩︎

Aktualisiert am 17.01.2023

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