2011 schaffte es Christopher Marlowe ins deutschsprachige Fernsehen. Eine Ehre, auf die er hätte verzichten können.
Das Shakespeare-Rätsel ZDF, 2011
Eine ATLANTIS-FILM Produktion, Berlin
Regie: Eike Schmitz
Buch: Susanne Utzt, Eike Schmitz
Produzent: Eike Schmitz
Eine ATLANTIS-FILM Produktion, Berlin
Im Auftrag des ZDF in Zusammenarbeit mit ZDF Enterprises
Das ZDF strahlte Das Shakespeare-Rätsel, das sich mit der Urheberschaftsfrage des shakespeareschen Œuvres beschäftigt, am 25. April 2011 in der Reihe Terra X aus. Hergestellt wurde der Beitrag von der Firma Atlantis-Film, die "[…] als Label seit über 20 Jahren für hohe Qualität in historischen Dokumentarfilmen." steht.1 Der Dokumentarfilm muss in einer ernsthaften Krise stecken, wenn mindestens 15 gravierende Fehler in 45 Minuten als qualitativ hochwertig betrachtet werden. Das eigentliche Rätsel ist nicht die Identität des Verfassers von Shakespeares Dramen, sondern warum eine derart schlecht recherchierte und fehlerhafte "Dokumentation" einem Publikum überhaupt zugemutet werden darf. Da sich von den Verantwortlichen für diese Sendung keiner wenigstens kurzfristig ernsthaft mit Christopher Marlowe, William Shakespeare und dem elisabethanischen Theater auseinandergesetzt hat, habe ich nachfolgend die schwerwiegendsten Fehler samt Zeitangabe aufgelistet.
12:17: "[…] berühmt geworden durch seine Tragödie Doctor Faustus."
Marlowes erster großer Erfolg auf der Bühne war Tamburlaine. Doctor Faustus entstand später.
12:42: "Er [Marlowe] hatte zuvor den Verstyp des Blankverses erfunden."
Der Blankvers existierte bereits in der antiken griechischen und römischen Dichtung und wurde durch die italienische Renaissance wiederbelebt. Henry Howard, Earl von Surrey benutzte ihn für seine Aeneis-Übersetzung. 1561 verwendeten ihn Thomas Sackville und Thomas Norton in Gorboduc erstmals in einem englischen Drama. Es wurde 1562 vor Elizabeth I. gespielt und 1565 ins Stationers' Register eingetragen. Der Blankvers war in England schon lange vor Marlowe bekannt. Er präsentiert ihn nur einem breiteren Publikum und erkannte die Möglichkeiten, die er bot.
13:37: "Es gibt nur ein einziges Portrait, das Christopher Marlowe zeigt."
Es gibt zwei Portraits, die angeblich Christopher Marlowe zeigen: Das Cambridge-Portrait und das Grafton-Portrait. Beide zeigen jeweils einen Mann, der 1585 21 Jahre alt war, was auf Marlowe und hunderte, wenn nicht tausende andere Männer zutraf. Deshalb wird angenommen, eines oder beide würden Marlowe zeigen. Tatsächlich gibt es zwischen den Gemälden und Marlowe keine Verbindung. Weder die Universität Cambridge noch die John Rylands Library in Manchester, denen die Bilder gehören, erklären, sie würden ein Portrait von Marlowe besitzen.
15:00: "Auf der Suche nach geeigneten Agenten rekrutiert Walsingahm unter anderem auch Christopher Marlowe. Er hat sich während seines Studiums in Cambridge bereits einen Namen gemacht als Autor von Theaterstücken und als brillanter Verfasser von Pamphleten."
Ein direkter Kontakt zwischen Francis Walsingham und Marlowe ist bis heute nicht nachgewiesen worden. Vermutlich entstanden einige Werke Marlowes bereits während seiner Zeit in Cambridge, doch nichts deutet darauf hin, dass er jemals ein Pamphlet verfasst hätte.
17:48: "Walsingham gelingt es, die Königin von Marlowes Treue zu überzeugen. Sie bestätigt der Universität, Marlowe sei zum Wohle des Landes unterwegs gewesen und verdiene es vertrauensvoll behandelt zu werden."
Walsingham hatte damit gar nichts zu tun. Das erwähnte Schreiben ist nicht im Original erhalten, es gibt nur eine Abschrift in den Protokollen des Privy Councils datiert vom 29. Juni 1587. In Anwesenheit von Erzbischof John Whitgift, Sir Christopher Hatton, William Cecil, Lord Burghley, Henry Carey, Lord Hunsdon und Sir James Crofts erging eine Nachricht an die Universitätsleitung in Cambridge, in der mit keinem Wort erwähnt wird, Marlowe hätte im Auftrag der Königin spioniert. Marlowes Tätigkeit als Spion ist überhaupt eine sehr vage Theorie, für die es keine eindeutigen Beweise gibt.
20:17: "Marlowe genießt nicht nur die Protektion des Geheimdienstchefs Sir Francis Walsingham, sondern auch die seines Neffen, Thomas Walsingham."
Thomas Walsingham war nicht der Neffe von Francis, sondern ein Enkel von Edward Walsingham, einem Onkel von Sir Francis Walsingham.
20:41 "Dem Freundeskreis um Thomas Walsingham gehören illustre Leute an, unter ihnen Sir Walter Raleigh […]. Wegen ihrer Beschäftigung mit kritischer Theologie, Staatstheorie und Alchemie sieht man in ihnen eine Art Geheimbund, der als School of Night – Schule der Nacht – bekannt geworden ist."
Die Schule der Nacht hat erwiesenermaßen nie existiert.
23:04: "Marlowe könnte jeden Moment erneut verhaftet und dann hingerichtet werden."
Marlowe wurde mehrmals in seinem Leben verhaftet, aber nie im Zusammenhang mit seinem Erscheinen vor dem Privy Council. Dieser schickte Marlowe am 28. Mai 1593 eine Vorladung, der er zwei Tage später nachkam. Warum er dort zu erscheinen hatte, ist unbekannt, er wurde aber noch am selben Tag, mit der Auflage sich täglich zu melden, wieder weggeschickt.
25:04: "Die Antwort auf die Frage liegt vielleicht in Zeugenaussagen, die gleich nach dem Tod Marlowes vor dem Untersuchungsrichter der Königin aufgezeichnet werden. In ihnen wird zwar detailliert beschrieben, wie sich die Auseinandersetzung zwischen Christopher Marlowe und seinen Kumpanen an jenem Nachmittag des 30. Mais 1593 zugetragen haben soll, aber keiner derjenigen, die den Bericht unterschrieben haben, war anwesend während des Geschehens. Keiner von ihnen kannte Marlowe persönlich."
Wenn es sich um Aussagen von Zeugen eines Tathergangs handeln würde, dann hätten die Leute, die ausgesagt haben, anwesend sein müssen, denn sonst wären sie ja keine Zeugen. Die detaillierte Beschreibung befindet sich im Bericht des königlichen Leichenbeschauers William Danby. Dieser Bericht wurde nicht von Zeugen bestätigt, sondern von Geschworenen, von denen natürlich keiner bei der Tat anwesend war und von denen man annehmen kann, dass keiner von ihnen das Opfer persönlich kannte – das trifft aber auf Geschworene ganz prinzipiell zu. Marlowe starb übrigens am 9. Juni und nicht am 30. Mai 1593.
26:45: "Marlowe soll verschwinden, […] dazu wird man seine Ermordung fingieren im Haus einer Verwandten von Walsingham, in Deptford […]. Marlowe sei angeblich bei einem Wirtshausstreit ermordet worden."
Das Haus in dem Marlowe starb, gehörte einer Frau namens Eleanor Bull, die ganz bestimmt kein Wirtshaus betrieb, sondern, wie es damals weit verbreitet war, in ihrem Privathaus Kost und Logis gegen Bezahlung anbot. Sie war nicht mit Walsingham verwandt, sondern mit Blanche Perry einer Hofdame der Königin, die wiederum mit Lord Burghley verwandt war.
32:33 "[…] und man fragt sich wie Shakespeare als Theatermanager und Stückeschreiber so reich werden konnte […]"
Und man fragt sich, wie so eine Frage überhaupt entstehen kann, wenn man sich die finanzielle Situation von anderen Schauspielern und Theatermanagern der Zeit wie Edward Alleyn oder Philip Henslowe angesehen hat.
33:08: "Das Curtain Theatre ist das Theater, in dem die Truppe [Lord Chamberlain’s Men] auftritt, nachdem ihr Ursprungshaus The Theatre geschlossen worden war. Gemanagt wird die Truppe von Richard Burbage und James Henslowe. Henslowe führt akribisch Buch über Proben, Vorführungen, Besucherzahlen, Ein- und Ausgaben. […]"
Henslowes Vorname war Philip!!! Er war Besitzer des Rose, in dem ab 1591 Edward Alleyn und die Admiral’s Men – die Truppe, für die Marlowe fast alles seiner Dramen geschrieben hatte – spielten. Henslowe hatte nichts mit den Lord Chamberlain’s Men zu tun.
34:03: "In einer Nacht- und Nebelaktion schaffen die Männer der Truppe alle brauchbaren Teile ihres alten Theaters über die Themse. Der Besitzer des Curtain ist entrüstet."
Er ist völlig unbegründet entrüstet, denn die Chamberlain’s Men haben nicht das Curtain, sondern das Theatre abgebaut und für den Neubau des Globes 1599 verwendet. Das Curtain war bis 1622 in Betrieb. Die Teile wurden auch nicht nachts heimlich über die Themse verfrachtet, sondern in das nahegelegene Lager eines Zimmermanns gebracht und erst einige Monate später über den Fluss transportiert.
- Atlantis Film (2011)↩︎