Barabas

Barabas bedeutet "Sohn des Abbas". Bei allen vier Evangelisten ist es der Name des Zeloten, den Pilatus statt Jesus freiließ. Abgesehen davon besteht keine Verbindung zwischen der biblischen Gestalt und der Titelfigur in The Jew of Malta.

Mit Barabas zeigt Marlowe einen Juden, der absolut nicht dem typischen Bild des ausgehenden 16. Jahrhunderts entsprach.

"Jude sein bedeutet nach der Definition von Marlowes Stück: emanzipiert sein von den falschen Bindungen von Religion, Rasse oder Klasse, von den interessengebundenen Konstruktionen der Moral und des Rechts, bedeutet Dekonstruierer zu sein, der den Verblendungszusammenhang auflöst, bedeutet durchzublicken und sein Außenseitertum zu genießen."1

Marlowe Figuren gefallen sich prinzipiell in ihrer Position als Außenseiter. Die einzige Ausnahme ist Mephostophiles.

"Barabas gehört ganz in die Kategorie der Aaron, Richard III., Don John, Edmund, Iago, Jachimo, die "I am myself alone" (The True Tragedy of Richard Duke of York) auf ihr Panier geschrieben haben und stolz im pluralis maiestatis verkünden "We love our self" (Hamlet, 4. 7. 34)."2

Das alles unterscheidet Barabas drastisch von Shakespeares Shylock, mit dem er so gerne in einem Atemzug genannt wird.

Barabas Vermögen ist das Ergebnis seiner Befreiung von sämtlichen sozialen, politischen und gesellschaftlichen Zwängen. Genau diese Freiheit neiden ihm all die anderen "frommen" Bewohner Maltas.3 Er ist in vielerlei Hinsicht eine höchst moderne Figur, die den aufstrebenden, internationalen Kapitalismus personifiziert.4 Als solcher hat er kein Interesse am Besitz der andern, deren Gespartes ist ihm die Mühe nicht wert. Er erfreut sich höchstens daran, dass die anderen gerne hätten, was ihm gehört. Zu einer Bedrohung von Hab, Gut und Leben seiner Mitmenschen wird er erst, nachdem Ferneze ihn bestohlen und dessen Sohn seine Tochter Abigail verführt hat.5 Das macht seinen, bei Marlowe häufig auftretenden, Bruch im Charakter im Gegensatz zu dem bei Guise oder Mortimer auf jeden Fall verständlich. Sobald Barabas einen Teil seines Vermögens wiedererlangt hat, verfällt er in dieselbe Maßlosigkeit, die alle Helden Marlowes kennen. Seine Rachsucht macht nicht einmal vor Abigail halt. Nach Tamburlaine ist Barabas die zweite Dramengestalt Marlowes, die ihr Kind tötet.

Seine Taten werden immer aberwitziger und wider Erwarten kommt er damit nicht nur durch, er wird auch nie zum tatsächlichen Bösewicht, weil seine Umgebung fast gänzlich so verkommen ist, dass sie als bemitleidenswertes Opfer absolut untauglich ist. Elfriede Jelinek meinte, Barabas müsse weg, damit er die Gemeinheit nicht mehr spiegeln könne.6 Sein endgültiges Verschwinden verursacht er ganz in der Tradition des marloweschen Helden jedoch selbst. Auf dem Höhepunkt seiner Macht überkommt ihm die absurde Idee, der Feind meines Freundes könnte mein Freund werden. So entsteht zum Schluss eher der Eindruck, Barabas muss verschwinden, damit diejenigen, die vorher ungehindert gemein sein durften, es wieder sein können, oder egal, wie gemein Barabas ist, Ferneze ist auf jeden Fall gemeiner.

Historische Vorbilder

Für The Jew of Malta konnten nie eindeutige literarischen Quellen festgestellt werden. Vermutlich hat auch Barabas keine historischen Vorbilder, obwohl wiederholt vier Männer genannt wurden, die als Vorlage gedient haben könnten.

Joseph Nasi

In Werken, die Marlowe bereits für 1 Tamburlaine konsultiert haben dürfte, wird unter anderem die beispiellose Karriere von Joseph Nasi und vor allem seine Verbindung mit der Belagerung Zyperns geschildert. Dazu zählen Philipp Lonicers Chronicorum Turcicorum (allerdings erst in der 2. Auflage von 1584)7, Pietro Bizaris Cyprium Bellum inter Venetos et Selymum Turcarum Imperatorem Gestum (1573) und François de Belleforrest Cosmographie Universelle de Tout le Monde (1575), eine erweiterte Übersetzung von Sebastian Münsters Cosmographia.8

Leon Kellner vertrat 1887 erstmals die These, dass Marlowe von Joseph Nasi teilweise zur Figur des Barabas inspiriert worden war.9 Nasi wurde um 1524 in Portugal als João Miquez geboren und stammte aus einer wohlhabenden marranischen10 Familie. Früh verlor er seinen Vater, weshalb die Mutter zu ihrer Schwägerin zog. Gracia Nasi (christlicher Name: Bearice de Luna) hatte 1528 im Alter von achtzehn Jahren Semah Benviste, dessen christlicher Name Francisco Mendez lautete, geheiratet. Seine Familie besaß das bekannte Handels- und Bankhaus Mendez. 1536 wurde Gracia Witwe und zog mit ihrer Familie nach Antwerpen. Nach dem Tod ihres Schwagers sechs Jahre später erbte sie das gesamte Vermögen und wurde Oberhaupt des Familienunternehmens. Sie erwies sich als ausgezeichnete Geschäftsfrau, die ihren Neffen in die Finanzwelt einführte. In Antwerpen verkehrten sie bei Statthalterin Maria, der Schwester Karl V., die wie Henri II. von Frankreich zu ihren Schuldnern zählte. Bereits 1545 gestatte Venedig der Familie Mendez die Niederlassung. Das Vermögen des Bankhauses war mittlerweile immens angewachsen, als Gerüchte laut wurden, die Familie plane einen Umzug ins Osmanische Reich. Die venezianische Regierung wollte das unter allen Umständen verhindern, da sie den Abzug des Vermögens vermutete. Dank der weitreichenden Verbindungen des Hauses konnten die Mendez sich nach teilweise recht abenteuerlichen Unternehmungen 1554 in Konstantinopel niederlassen. Dort erfolgte das öffentliche Bekenntnis der gesamten Familie, die ihren Glauben stets heimlich ausgeübt hatte, zum Judentum. Aus João Mendez wurde Joseph Nasi, ein einflussreicher Berater Süleiman I. und Selim II. Während der osmanischen Thronstreitigkeiten unterstützte er Selim, der ihn nach der Machtergreifung zum Herzog von Naxos machte. Dieser Inselstaat, auch Herzogtum Archipelagos genannt, der mehrere Inseln der Kykladen umfasste, war 1207 von den Venezianern nach dem Vierten Kreuzzug gegründet worden. Als Selim II. den letzten christlichen Herzog Jacopo IV. Crispo absetzte, war dieser ihm schon lange tributpflichtig.11 Nasi verfügte über weitverzweigte Kontakte wie etwa zu König Sigismund August von Polen12, die er zugunsten des osmanischen Reichs einsetzte. Daheim nutzte er seinen politische wie wirtschaftlichen Einfluss, Henri II. erfolgreich zur Rückzahlung der Schulden zu zwingen und unterstützte danach die Hugenotten finanziell. Im Streit um Zypern zwischen Venedig und dem Osmanischen Reich griff Nasi ebenfalls ein. Er beeinflusste Selim II. dahingehend, die Ansprüche notfalls militärisch durchzusetzen. Nachdem der osmanische Unterhändler in Venedig gescheitert war, eroberten die Osmanen 1569 Zypern. Papst Pius V. rief die katholischen Länder zum Kampf auf. Zwar schlug diese Heilige Liga am 7. Oktober 1571 in der Seeschlacht von Lepanto die osmanische Flotte vernichtend, konnte aus diesem Sieg aber keinen Vorteil erzielen. Zwei Jahre später verzichtete Venedig offiziell auf seine Ansprüche. Damit schien Nasi sich vom Hof Selims, wo sein Gegner Großwesir Sokollu Mehmed Pascha immer mehr die Oberhand gewann, zurückgezogen zu haben.13 Wie schon seine Tante Gracia, die 1569 gestorben war, unterstützte Nasi seine Glaubensgenossen. Bereits 1561 hatte er vom Sultan die Erlaubnis erhalten, in Tiberias am See Genezareth eine jüdische Siedlung zu gründen. Der Versuch scheiterte daran, dass viele europäische Juden die Überfahrt und die ökonomischen Herausforderungen des Landes scheuten. Nasi starb 1579 in Istanbul, worauf Murad III., der Sohn Selim II., sein Vermögen konfiszierte. Nasis Witwe Reina, die Tochter Gracias, blieb nur die im Ehevertrag festgesetzte Summe. Damit gründete sie eine Druckerei für Werke in Hebräisch.14

Hector Nuñez

Zumindest sein Name wird im Drama direkt erwähnt (I,1,122). Hector Nuñez (1521-1591) stammte aus Portugal und kam um 1550 nach London. Er war sowohl Mitglied des Colleges of Physicians als auch des Royal Collegs of Sugeons und wurde 1579 eingebürgert. Lord Burghley konsultierte sowohl ihn als auch Lopez, bevorzugte aber ersteren.

Rodrigo Lopez

Rodrigo Lopez stammte ebenfalls aus Portugal und kam 1559 nach London. Er wurde Mitglied im College of Physicians und behandelte 1571 erstmals Francis Walsingham. Er war schon einige Jahre im St Bartholomew’s Hospital tätig, als er Arzt im Haushalt des Earls von Leicester wurde. Geld verdiente er nicht nur als Arzt, sondern auch als Kaufmann, da er das Importmonopol auf Anis und Sumach besaß. Als 1580 Don Antonio, Prior von Crato nach England kam, um seine Ansprüche auf den portugiesischen Thron gegen Philipp II. durchzusetzen, fanden zahlreichen Verhandlungen mit Burghley, Francis Walsingham und Leicester statt. Wegen ihrer Sprachkenntnisse, des Wissens um die spanisch-portugiesischen Verhältnisse und ihrer weitreichenden Verbindungen waren sowohl Lopez als auch Nuñez in diese Unternehmungen involviert. Hinzu kam eine deutliche Verbesserung der ohnehin schon guten anglo-osmanischen Verbindungen. Joseph Nasi unterstützte von Konstantinopel aus ebenfalls Don Antonio. Murad III. bestätigte bereits 1580 die englischen Handelsrechte. Zwei Jahre später wurde mit William Harborne der erste englische Botschafter ins Osmanische Reich entsandt. Die jüdischen Kontakte, die von Konstantinopel über die Niederlande nach Spanien und London reichten, machten sich nun für die Engländer bezahlt. Obwohl die ersten Versuche Don Antonio als König von Portugal einzusetzen gescheitert waren, war Nuñez weiterhin für Walsingham tätig. Nach Nasi fand der Prätendent in Solomon Abenas einen neuen Vertrauensmann, dessen wichtigster Agent in London Rodrigo Lopez, ein angeheirateter Verwandter war, der 1586 zum Leibarzt der Königin ernannt wurde. Spanien blieb nicht untätig und ab 1587 gab es über den Agenten Antonio de Vega und Botschafter Bernardo de Mendoza in Paris einen Kontakt zwischen Lopez und Philipp II., dessen Hauptanliegen zunächst die Ausschaltung von Don Antonio war. Im Sommer kam es jedoch zum Bruch zwischen Antonio und Lopez. de Vega drängte Lopez den Kontakt wiederaufzunehmen, doch das Verhältnis blieb unterkühlt. Mit dem Sieg über die Armada 1588 erhoffte sich Don Antonio ein rasches Eingreifen zu seinen Gunsten in Portugal. Das war von englischer Seite auch geplant, aber Antonio verlor die Geduld und machte für das Scheitern seiner Hoffnungen Abenas verantwortlich. Sir Edward Barton, der am 3. August Harborne abgelöst hatte, musste im Oktober erfahren, dass Abenas durch David Passi ersetzt wurde. Passi war ebenfalls ein portugiesischer Marrane, der über einigen Einfluss am Hof des Sultans verfügte. Die Engländer verdächtigten ihn, für die Spanier zu arbeiten, obwohl das nie bewiesen werden konnte.15 Passi war recht umtriebig, wovon die Berichte mehrerer Gesandter zeugen,16 bis er 1591 in Ungnade fiel und ins Exil nach Rhodos geschickt wurde. Später kehrte er nach Konstantinopel zurück, spielte aber im politischen Leben keine Rolle mehr. Im April 1589 brach tatsächlich ein Expeditionsheer nach Lissabon auf, das eigentlich die restlichen Schiffe der Armada zerstören sollte. Das ganze Unternehmen wurde ein totales Fiasko und England verlor das Interesse an Don Antonio. Lopez verstrickte sich hingegen immer tiefer in die Wirren der Geheimdienste. Seine Einnahmen gingen zurück, da sein Importmonopol nicht verlängert worden war. Wahrscheinlich 1591 erhielt er von Philipp II. einen wertvollen Ring. Nach Walsinghams Tod versuchte der Earl von Essex, Lopez zur Tätigkeit als Doppelagent zu überreden. Der Doktor verzichtete nach Rücksprache mit der Königin darauf. Trotzdem überbrachte er ihr auf ihren Wunsch hin relevante Neuigkeiten, die er durch seine zahlreichen Kontaktleute erfuhr. Damit verstimmte er Essex, über den er sich öffentlich abschätzend äußerte. Zur selben Zeit wollte Lopez Elizabeth I. den Ring des spanischen Königs schenken, was sie jedoch ablehnte. Unklar war dabei, ob sie von der Herkunft des Schmuckstücks wusste. Ende 1593 Anfang 1594 kam es zur Gefangennahme spanischer Agenten, von denen einer mit Lopez in Kontakt trat. Der Doktor wurde darauf hin verhaftet und unter Hausarrest gestellt. Essex versuchte die Königin gegen ihren Arzt aufzubringen, doch Elizabeth I. glaubte den Anschuldigungen nicht, wodurch der Earl sich gedemütigt fühlte. Er setzte alles daran einen Fall gegen Lopez zu kreieren. Die verhafteten Agenten sagten aus, der Mediziner hätte für 50.000 Kronen angeboten, Elizabeth I. zu vergiften. Ende Februar begann die Verhandlung, die mit einem Schuldspruch endete. Lopez hatte unter der Folter zwar ein Geständnis unterschrieben, es dann aber zurückgezogen. Er beteuerte, auf die spanischen Vorschläge nur zum Schein eingegangen zu sein. Da es spätestens seit 1585 bereits als Verrat galt der Ermordung der Königin auch nur zugestimmt zu haben, war Lopez in den Augen des Gesetzes tatsächlich schuldig. Elizabeth I. zögerte die Zustimmung zu seiner Verurteilung bewusst hinaus und ließ eine bereits angesetzte Urteilsvollstreckung absagen. Letztlich wurde Lopez auf Betreiben Essexs am 17. Juni 1594 doch hingerichtet.17 Die Königin sorgte weiterhin für seine Witwe und seine Kinder. Für die Elisabethaner war Lopez ein Verräter, womit er in eine eindeutige Kategorie fiel. Kein einziges Mal wurde dieser Verrat in Zusammenhang mit seinem jüdischen Glauben gestellt.18

David Passi

David Passi als Anregungsfigur, wie Charles Frederic Tucker Brooke19 vorschlug, kann mit ziemlicher Sicherheit ausgeschlossen werden. Er wurde damals in diplomatischen Schreiben öfters erwähnt, es ist jedoch kaum wahrscheinlich, dass Marlowe zu dieser Korrespondenz Zugang hatte.


Bersohn, Matthias. 1869. “Einige Worte Don Joseph Nasi, Herzog von Naxos Betreffend.” Monatsschrift Für Geschichte Und Wissenschaft Des Judentums 18 (9): 422–24.
Brooke, Charles Frederic Tucker. 08.06.1922. “The Prototype of Marlowe’s Jew of Malta.” Times Literary Supplement 1064 (08.06.1922): 380.
Katz, David S. 1996. The Jews in the History of England: 1485 – 1850. Oxford: Clarendon Press.

  1. Apel (2003), 162↩︎
  2. Breuer (1975), 408↩︎
  3. Al-Khalili and Al-Shalibi (2012)↩︎
  4. Vitkus (2006)↩︎
  5. Anderson (2012)↩︎
  6. Jelinek (2001)↩︎
  7. Seaton (1929)↩︎
  8. Thomas and Tydeman (1994)↩︎
  9. Kellner (1887)↩︎
  10. Bereits seit der Zerstörung des Tempels von Jerusalem und der Diaspora lebten Juden auf der iberischen Halbinsel. Sobald sie mehr oder minder freiwillig zum Christentum konvertierten lautete ihre offizielle Bezeichnung "conversos" oder "cristianos nuevos". Viele von ihnen praktizierten den jüdischen Glauben nach der Konvertierung heimlich und wurden "marranos" genannt. "Marrão", wahrscheinlich ein Lehnwort aus dem Arabischen, wo "máhram" eine "verbotene Sache" bezeichnet, bedeutet im Portugiesischen und Kastilischen "Schwein".↩︎
  11. Mindel (s. a.)↩︎
  12. Bersohn (1869)↩︎
  13. Mindel (s. a.)↩︎
  14. Katz (1996)↩︎
  15. Katz (1996)↩︎
  16. Thomas and Tydeman (1994)↩︎
  17. Katz (1996)↩︎
  18. Berek (1998)↩︎
  19. Brooke (08.06.1922)↩︎

Aktualisiert am 18.01.2023

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