Baines Note

Der rätselhafteste und kontroverseste Akt über Christopher Marlowe ist die sogenannte Baines Note. Ob selbst verfasst oder nur diktiert, brachte Richard Baines, der erfolglose Spion aus dem Katholischen Seminar und Vlissingen, A note containing the opinion of on Christopher Marly concerning his damnable Judgment of Religion, and scorn of Godes word1 zu Papier. Der Titel ist hier Programm: Marlowe hätte gesagt, dass Moses ein Schwindler sei, Religion nur dazu diene, das Volk zu unterdrücken, Jesus der Sohn einer unehrenhaften Mutter und Bettgenosse des Johannes gewesen sei, dass er selbst eine bessere Religion erfinden könne, usw. Außerdem hätte er, Christopher Marlowe, dasselbe Recht, Münzen zu prägen wie die englische Königin. All dies dürfte eigentlich gar kein Geheimnis sein, da Marlowe jeden, den er treffe, zum Atheismus zu bekehren versuche. Trotzdem hatte sich kein anderer als ausgerechnet Richard Baines gefunden, der Obrigkeit davon Mitteilung zu machen.

Es ist mittlerweile nicht mehr nachvollziehbar, wann die Baines Note verfasst worden ist, wer sie erhalten hat und ob sie an irgendwen weiter gegeben wurde. Erschwerend kommt hinzu, dass es zwei Fassungen gibt. Die erste Version ist undatiert, auch wenn immer wieder zu lesen ist, sie stamme vom 6. Juni 1593. Die zweite Version trägt den Titel A note delivered on whitsun eve last of the most horrible blasphemes and Damnable opinions uttered by Xpofer Marly who w[i]thin iii d[a]yes after came to a sudden & fearfull end of his life.2 Demnach wurde dieses Dokument am Pfingstsamstag übergeben. Das war 1593 in England der 11. Juni. Marlowe starb aber nicht drei Tage später, sondern zwei Tage vorher. Weiters ist bemerkenswert, dass in dieser Fassung sämtliche Passagen, die nichts mit Marlowes vermeintlichen Anschauungen über Religion zu tun hatten, entfernt wurden. Ebenso erging es dem marginalen Hinweis auf Walter Raleigh und Thomas Harriot. Außerdem vermerkte eine andere Handschrift "Copye of Marlowes blasphemyes as sent to her H." Ob es sich tatsächlich so verhalten hat, ist fraglich. Das Manuskript liegt nicht in Reinschrift vor, sondern wirkt eher wie eine Notiz, die in dieser Form wohl kaum an die Königin geschickt worden ist. Weiters befinden sich beide Versionen der Baines Note nicht bei den Unterlagen der Königin, sondern bei denen des Lordsiegelbewahrers John Puckering.3

Schrieb Baines die Anschuldigungen nun vor oder nach Marlowes Tod? Stammen die Aussagen tatsächlich alle von Marlowe? Warum gab Baines sie überhaupt zu Protokoll? Berücksichtigt man die (wenigen) Fakten, die vorliegen und vergegenwärtigt sich die Zustände im elisabethanischen England der 1590er Jahre, lassen sich gewisse Wahrscheinlichkeiten ausmachen, jedoch keine befriedigenden Antworten geben.

Obwohl England etwa im Gegensatz zu Spanien als ziemlich liberal galt, war es weder die richtige Zeit noch der passende Ort, um seinen Gedanken freimütig Lauf zu lassen.4 Aus heutiger Sicht lächerliche Bemerkungen konnten einen damals ganz rasch in lebensbedrohliche Schwierigkeiten bringen. Verglichen mit der Baines Note sind die Dutch Church Libel oder die Abschrift aus The Fall of the Late Arrian, die bei Thomas Kyd gefunden wurde, geradezu harmlos. Dennoch wurde Kyd verhaftet, eventuell gefoltert5, von seinem adeligen Gönner fallengelassen und fand bis zu seinem Tod keine neue Anstellung mehr. Hätte der Privy Council oder ein anderes maßgebliches Organ zu Lebzeiten Marlowes Kenntnis vom Inhalt der Baines Note gehabt oder wäre von dessen Glaubwürdigkeit überzeugt gewesen, erscheint es höchst unwahrscheinlich, dass keine Maßnahmen gegen Marlowe ergriffen wurden bzw. er nur mit der Auflage sich täglich zu melden, wieder auf freien Fuß gesetzt worden wäre.

Wer auch immer der Urheber der Baines Note war, er war nicht besonders einfallsreich. Marlowes angebliche Äußerungen über Atheismus und Homosexualität erinnern überraschender Weise an die Vorwürfe, die Lord Henry Howard und Charles Arundell 1580 gegen Edward de Vere, Earl of Oxford vorbrachten.6 Diese erwiesen sich letztlich als völlig haltlos. Wie Alec Ryrie in Unbelievers: An Emotional History of Doubt ausführlicher darlegt, musste man solche Aussagen nicht erfinden, man konnte sie nachlesen. Vereinfacht gesagt: Es gab atheistische Stereotypen, die je nach Bedarf einsetzbar waren.7 Das würde auch zahlreiche andere Parallelen erklären. Thomas Kyd schrieb nach seiner Verhaftung und ziemlich sicher nach Marlowes Tod zwei Briefe, in denen er Marlowe in verblüffend ähnlicher Art schildert wie Richard Baines. Dabei sind schon diese Aussagen, wie bereits erwähnt, nicht sehr originell. Roy Kendall verglich die beiden Geständnisse von Baines aus Reims mit seinen Angaben über Marlowe und entdeckte zahlreiche Gemeinsamkeiten. Dass Baines einen Eid darauf schwört, er habe nur die Wahrheit über Marlowe niedergeschrieben und das mit seiner Unterschrift bezeugte, ist nicht viel wert, wenn man bedenkt, dass er zehn Jahre zuvor genau so bestätigte, er werde allen lutherischen wie calvinistischen Häresien abschwören, um in den Schoß der Heiligen Römischen Katholischen Kirche zurückzukehren.8 Sowohl Baines als auch Kyd betonten, Marlowe hätte seine abscheulichen Ansichten überall und jedermann kundgetan. Hätte Marlowe das alles wirklich allerorts lautstark verkündet, muss man sich fragen, wie ein derart gefährliches Subjekt so lange unbehelligt hatte bleiben können. Laut eigenen Angaben kannte Kyd Marlowe seit mindestens zwei Jahren und seit Vlissingen war er auch für Baines kein Unbekannter. Dennoch fiel es beiden – unabhängig voneinander, oder auch nicht – erst im Juni 1593 ein, die Obrigkeit über ihn zu informieren.

"But that Marlowe said all of these things, and that he said them to 'almost all men with whom he hath conversed', is surely too good – or rather too bad – to be true. This document, which has perplexed and scandalised Marlowe’s biographers for centuries, tells us nothing for certain except that Richard Baines wished to accuse Marlowe of heresy."9

Der Wahrheitsgehalt der Baines Note mag, vielleicht nicht gänzlich, aber zu einem Großteil bezweifelt werden. Bis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Näheres über das Leben von Baines bekannt wurde, war man, mit wenigen Ausnahmen, davon ausgegangen, die Baines Note sei der "[…] master key to the mind of Marlowe."10 Davon kann längst nicht mehr die Rede sein. Trotzdem erfreut sich das Dokument großer Beliebtheit. Im Oktober 1980 begann eine Aufführung von Doctor Faustus im Jesus College in Cambridge ernsthaft mit der Verlesung der Baines Note.11 Als ob man darin irgendetwas für das bessere Verständnis des Stücks finden könnte! Was sagt uns die Baines Note über Christopher Marlowe? Vielleicht verrät sie uns ein wenig über Marlowes Charakter und seine Ansichten, doch kann man davon ausgehen, falls überhaupt, höchstens ein Minimum der Aussagen wirklich in dieser Form von Marlowe getätigt worden sind. Aber was viel wichtiger ist: Die Baines Note sagt uns absolut nichts über Marlowes Werk.


Bray, Alan. 1990. “Homosexuality and the Signs of Male Friendship in Elizabethan England.” History Workshop Journal 29 (1): 1–19. https://doi.org/10.1093/hwj/29.1.1.
Meissner, Paul. 1952. England im Zeitalter von Humanismus, Renaissance und Reformation. Heidelberg: Kerle.
Ryrie, Alec. 2019. Unbelievers: An Emotional History of Doubt. London: William Collins.

  1. BL Harley MS.6848 f.185r-186r↩︎
  2. BL Harley MS.6853 f.307-8↩︎
  3. Downie (2007)↩︎
  4. Meissner (1952)↩︎
  5. Owens (2006)↩︎
  6. Bray (1990)↩︎
  7. Ryrie (2019)↩︎
  8. Kendall (1994)↩︎
  9. Nicholl (2002), 323↩︎
  10. Kocher (1946), 33↩︎
  11. Potter (2000)↩︎

Aktualisiert am 18.01.2023

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