Atheismus und Homosexualität im England des 16. Jahrhundert sind zwei hochkomplexe, vielschichtige Materien, denen ich hier kaum gerecht werden kann. In manchen Punkten weisen sie Ähnlichkeiten auf, weshalb es von Vorteil ist, die beiden Beiträge nacheinander zu lesen. Für eine umfassende Beschäftigung mit dem Thema empfiehlt sich Homosexuality in Renaissance England von Alan Bray.1
Bevor wir zu den erwähnten Parallelen kommen, sollte der gravierendste Unterschied erwähnt werden. Atheismus wird Marlowe vermutlich schon zu Lebzeiten und dann gleich nach seinem Tod andauernd vorgeworfen. Die einzige Aussage über sein Intimleben stammt von Richard Baines, der in der Baines Note zu Protokoll gab, Marlowe hätte gesagt: "That all they that love not Tobacco & Boies were fooles."2 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ist nie mehr von einer Homosexualität Marlowes die Rede.
Analog zum Atheismus hat auch der heutige Begriff "Homosexualität" nur sehr wenig mit dem zu tun, was die Elisabethaner darunter verstanden. Das Wort an sich war ihnen unbekannt.3 Für sie war es eine Form von "sodomy", was gegenwärtig wiederum eine ganz andere Bedeutung hat. Für den heutigen Leser deutet der Vorwurf, den Richard Baines in der Baines Note erhebt viel eher auf Pädophilie denn auf Homosexualität hin.4 Allerdings schloss die Sodomie eine Reihe von nicht ganz klar definierten sexuellen Praktiken ein, von denen Sex zwischen Männern nur eine war. Eine adäquatere Übersetzung von "sodomy" wäre "sexuelle Ausschweifung". Sie wurde als eine rein männliche Sünde angesehen, die nicht in der Natur des Individuums, sondern in der Natur des Mannes lag. Jeder Mann konnte dazu genauso fähig sein wie bspw. zu Mord. Darüber hinaus war Sodomie ein sexuelles, aber auch ein politisches sowie religiöses Verbrechen. Wenn einer gegen die Natur rebellierte, war es dann verwunderlich, wenn er ebenso gegen die Gemeinschaft, die Königin und Gott rebellierte, daher wurde der Vorwurf der Sodomie oft mit dem des Atheismus verbunden. Was der elisabethanischen Gesellschaft fehlte, war "[…] the idea of a distinct homosexual minority, […] for whom alone homosexual desire is a possibility."5 Außerdem haben Begriffe von einst mittlerweile eine differente Wertigkeit. Bei zwei Personen, die eine Konversation führen, würde im 21. Jahrhundert niemand einen sexuellen Hintergrund vermuten. Im 16. Jahrhundert konnte "to converse" auch für "kopulieren" verwendet werden.6 Marlowe nennt in The Massacre at Paris Omer Talon den "bedfellow"7 von Ramée. Was für uns völlig eindeutig klingt, bedeute für Marlowe etwas absolut anderes. Die baulichen Gegebenheiten (John Thorpe entwarf den ersten Gang für ein Haus erst 1597.8) zwangen die Leute immer von einem Raum in den nächsten zu gehen, bis sie in dem Zimmer waren, in das sie wollten. Wer mit wem im Bett lag, konnte unter diesen Umständen kaum geheim gehalten werden. Weiters war das Bett längst nicht der Hort der Privatsphäre, als der es heute betrachtet wird. Im Bett schlief man nicht nur, man unterhielt sich dort ebenso. Jemandes Bettgenossen, war eine Vertrauensperson, die einen gegebenenfalls beeinflussen konnte. Bettgenosse einer höhergestellten Persönlichkeit zu werden, war durchaus erstrebenswert.9 William Laud notierte 1625 einen Traum, in dem sein Förderer der Herzog von Buckingham vorkam.
"that night in a dreame the Duke of Buckingham seemed to me ascend into my bed; where he carried himselfe with much love towards me, after such rest wherein wearied men are wont exceedingly to rejoyce: And likewise many seemed to me to enter the Chamber, who did see this."10
Das war keine sexuelle Fantasie des Erzbischofs von Canterbury. Laud träumte davon, dass der mächtige Herzog von Buckingham vor den Augen vieler demonstrierte, in welche hohem Ansehen er bei ihm stand, indem er ihn öffentlich zu seinem Bettgenossen machte. Aus dem Zusammenhang gerissen und ohne die notwendige Hintergrundinformation würde dieser Text gegenwärtig kaum so verstanden werden. Genauso verhält es sich mit der Art, wie Freundschaft im ausgehenden 16. Jahrhundert dargestellt und beschrieben wurde. Ein Kuss, eine Umarmung oder übers Haar streicheln in der Öffentlichkeit war ein Gunstbeweis. Blieb dies aus, konnte davon ausgegangen werden, dass die betreffende Person in Ungnade gefallen war. Freundschaft war eine starke emotionale Verbindung, die Leidenschaft sowie Eifersucht beinhaltete. Schriftlich fand sie ihren Niederschlag in einer für unsere Ohren sehr überschwänglichen Wortwahl. Es war nicht ungewöhnlich, schloss ein Earl ein Schreiben an einen Klienten mit den Worten: "'Your loving master'"11. Dieses elisabethanische Ideal, laut dem man seine Gunst nach außen zeigte und seine Freundschaft gefühlsbetont niederschrieb, war frei von sexueller Konnotation, außer jemand wollte es bewusst gegen einen verwenden. Die Liste derer, denen von unliebsamen Zeitgenossen vorgeworfen worden ist, eine Sodomit zu sein, inkludiert den Earl von Oxford, den Earl von Southampton, den Earl von Castlehaven und reicht bis zu James I.12 Als Edward de Vere, Earl von Oxford 1580 Lord Henry Howard und Charles Arundell der Verschwörung bezichtigte, beschuldigten sie ihn des Atheismus und der Sodomie. Obwohl es keinerlei Zusammenhang mit Christopher Marlowe gab, weisen die Anschuldigungen verblüffende Ähnlichkeit mit der Baines Note auf. Von de Vere wurde behauptet: "that way with so many boyes that it must nedes come out"13 und: "that when wemen were vnswete fine yonge boyes were in season"14. Nichts davon entsprach der Wahrheit. Die ganze Sache verlief im Sand. Atheismus und Sodomie waren beliebte Vorwürfe, sollte der Ruf eines Mannes beschädigt werden.
"Homosexual relationships did indeed occur within social contexts which an Elizabethan would have called friendship, between masters and servants included. But accusations like those […] are not evidence of it; and the ease with which [they were made] out of the most everyday of materials should make us wary. We see in them rather the unwelcome difficulty the Elizabethans had in drawing a dividing line between those gestures of closeness among men that they desired so much and those they feared."15
Man sieht wie ambivalent, verwirrend und widersprüchlich sich die Materie für die Elisabethaner gestaltete. Was gestern ein alltägliches Verhalten war, konnte morgen gegen einen eingesetzt werden. Das war einer der unschlagbaren Vorteile des Vorwurfs der Sodomie. Ob die Beschuldigung der Wahrheit entsprachen, war wie so oft irrelevant. Gerade in Edward II spielte Marlowe gekonnt mit dieser Mehrdeutigkeit. Das sagt etwas über sein Talent als Autor, aber nicht über seine Person aus. Weil im Laufe der Zeit Richard Baines samt seinen Behauptungen etwas an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat, ist es Marlowes Werk, in dem eine Reihe von Wissenschaftlern nach wie vor Marlowes eigenes Bekenntnis zur Homosexualität sieht.16 An diesem Punkt zeigt sich der große Unterschied zu Marlowes angeblichen Atheismus. Wenngleich seine Dramen ebenso wenig über seinen Glauben verraten, weisen sie allesamt Momente auf, in denen Religion innerhalb des damals vertretbaren Rahmen unorthodox betrachtet wird.17 Sind Edward II. und Gaveston das Liebespaar, für das sie gehalten werden, dann sind sie eine singuläre Erscheinung in Marlowes dramatischen Œuvre. Seine Protagonisten führen kein harmonisches Familienleben und keiner von ihnen kann für sich in Anspruch nehmen ein romantischer Liebhaber zu sein, aber es fehlt jeglicher Hinweis darauf, dass ihr Intimleben nicht den vorherrschenden Konventionen folgte. Aeneas, Tamburlaine, Faustus, Barabas, Guise, Mortimer, sie alle hatten eine Frau, haben eine Frau oder wollen eine Frau. So wie es aussieht, deutet Marlowes Werk offensichtlich nicht darauf hin, dass er homosexuell war.
Wie wurde Marlowe homosexuell?
"By some mysterious process, it is, for instance, widely current that Marlowe was homosexual, […]"18 Darin ist die Antwort bereits enthalten: Es ist ein Mysterium. Havelock Ellis und John Addington Symonds veröffentlichten 1887 im Zuge der Mermaid-Edition eine Werkausgabe Marlowes, durch die mehr Leser Zugang zu dem Autor bekamen, als vermutlich je zuvor.19 Darin wurde erstmals im 19. Jahrhundert die komplette Baines Note abgedruckt. Bis dahin war sie nur unter Wissenschaftlern bekannt gewesen, die sie wohlüberlegt vor den Augen des Publikums verborgen gehalten hatten.20 Symonds hatte sich bereits als Literaturwissenschaftler sowie als Dichter einen Namen gemacht. Auf beiden Gebieten zeigte er großes Interesse für die gleichgeschlechtliche Liebe. Seine Bisexualität war ein offenes Geheimnis. Ellis, der eine unkonventionelle Ehe mit der Lesbe und Frauenrechtlerin Edith Mary Oldham Lees führte, war ein bedeutender Sexualforscher. Sowohl er als auch Symonds traten für eine Entkriminalisierung der Homosexualität ein. Beide wollten zeigen, dass es sich dabei nicht um eine Verhaltensabnormität, sondern eine Konstante in der menschlichen Entwicklung handelt, was sich vor allem in der Kunst widerspiegelt. Also wurden Künstler aller Genres und Epochen gesucht, die entweder die freie Liebe ausgelebt oder ihr zumindest in ihren Werken gehuldigt hatten. In A Problem in Modern Ethics geht Symonds davon aus, dass seit dem antiken Griechenland Autoren, abseits von Pornographie, Homosexualität thematisierten. Auch in Marlowes Werk sei teilweise davon zu lesen. Allerdings führt Symonds keine Stelle an und spricht nur von Marlowes Schaffen, nicht von seinem Leben.21 1896 erschien in Leipzig Das konträre Geschlechtsgefühl, eine Zusammenarbeit von Ellis und Symonds. Die Autoren legten die erste objektive Studie über Homosexualität vor, die sie weder als Krankheit, Perversion oder Verbrechen verstanden haben wollten, womit sie im Jahr darauf, als die englische Version unter dem Titel Sexual Inversion erschien, für einen handfesten Skandal sorgten. Marlowes Werk und Leben sind darin dem damaligen Zeitgeist entsprechend eindeutig verknüpft.
"[…] Marlowe’s poetic work, while it shows him by no means insensitive to the beauty of women, also reveals a special and peculiar sensitiveness to masculine beauty. Marlowe clearly had a reckless delight in all things unlawful, and it seems probable that he possessed the bisexual temperament."22
Wie Symonds ging auch Ellis in dieser Hinsicht nicht konkreter auf Marlowes Text ein, sondern sprach nur allgemein über die homoerotische Tendenz in Edward II. Das war weder neu noch revolutionär. Bereits 1895 war in der Free Review ein Artikel erschienen, dessen Verfasser in Gaveston einen Hermaphroditen sah.23 Die Gesetzeslage sowie das gesellschaftliche Klima verhinderten eine breite Rezeption von Ellis Thesen. Ab 1967 war Homosexualität in Großbritannien nicht mehr strafbar. Kurz darauf wurde die Zensur abgeschafft. Das erlaubte im künstlerischen Bereich neue Darstellungsmöglichkeiten und gab dem Kampf um die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften in allen Belangen des alltäglichen Lebens neuen Auftrieb. Irgendwann danach setzte das oben erwähnte Mysterium ein. Marlowe hatte – laut Biographen und Literaturwissenschaftlern – immer Sex gehabt. Über dreihundert Jahre mit Frauen, jetzt plötzlich mit Männern. Es lässt sich kein Zeitpunkt, keine besondere Entdeckung oder sonst irgend etwas ermitteln, was zu der Überzeugung führte, Marlowe sei homosexuell gewesen. Wie so oft bei Marlowe, gibt es keine Belege für diese Behauptung. Ein Mangel, der darin seinen Ausgleich findet, dass sie seit ihrer mysteriösen Entstehung gerade zu mantraartig propagiert wird. Und es funktioniert. Nichts scheint die Menschen im Zusammenhang mit Marlowe so zu interessieren wie seine sexuellen Vorlieben. Ich habe Leute getroffen, die noch nie eine Zeile von ihm gelesen hatten, aber über sein Sexualleben Bescheid wussten.24 Die Idee von einem kontinuierlichen Ringen um Akzeptanz der eigenen Sexualität mit Marlowe als Mitstreiter, mag in Zeiten, wo solch ein Kampf eigentlich schon längst hätte gewonnen sein soll, aber es leider immer noch nicht ist, attraktiv erscheinen, muss sich in diesem Fall allerdings die Frage gefallen lassen, ob nicht der Wunsch der Vater des Gedanken ist, oder wie es Kenneth Tucker etwas drastischer formulierte: "Marlowe’s alleged homosexuality, furthermore, makes the material interesting […] to those wishing to advertise their own broadmindedness."25
- Bray, Alan. Homosexuality in Renaissance England. 2nd Ed. New York: Columbia University Press, 1995.↩︎
- BL Harley MS.6848 f.185v↩︎
- Laut OED wurde "homosexuality" erstmals 1892 verwendet. Simpson (2009)↩︎
- Erne (2005)↩︎
- Bray (1990), 2 u. 15↩︎
- Masten (1997)↩︎
- The Massacre at Paris. 9, 12↩︎
- Flanders (2015)↩︎
- Bray (1990)↩︎
- Prynne (1644), 6↩︎
- Bray (1990), 5↩︎
- Bray (1995)↩︎
- PRO SP12/151[/57], ff. 118-119↩︎
- PRO SP12/151[/46], ff. 103-4↩︎
- Bray (1990), 14↩︎
- Kuriyama (1980); Cunningham (1990); Bredbeck (1991); Comensoli (1993); Cartelli (2003); DiGangi (1998); Goldberg (1999); Hopkins (2003)↩︎
- Hunter (1964)↩︎
- Hopkins (2003), 4↩︎
- Ribner (1964)↩︎
- Dabbs (1991)↩︎
- Symonds (1896)↩︎
- Ellis (1915), 43↩︎
- Nicklin (1999)↩︎
- Als Beispiel sei hier eine Episode während meines Volontariats in der Kulturabteilung des ORF angeführt. Als ich gegenüber Michael Fischer-Ledenice erwähnte, ich werde meine Dissertation über Christopher Marlowe schreiben, bestand seine einzige Reaktion in der Frage: "Und, war er wirklich schwul?"↩︎
- Tucker (1995), 121↩︎