Christopher Marlowe war der erste englische Autor, der sowohl als Dichter als auch als Dramatiker substantielle Bedeutung erlangte.1 Seine Schaffensperiode umspannte etwa fünf Jahre, in denen er laut heutigem Wissensstand mindestens dreizehn Werke unterschiedlicher Gattungen verfasste, allerdings kann niemand sagen, wann genau er das tat. Eine exakte Datierung ist unmöglich, da fast alles erst nach Marlowes Tod in Druck ging. Die in der Forschung präsentierten Reihenfolgen sind gänzlich willkürlich. Dido, Queen of Carthage wird gerne an den Anfang der Dramen gestellt, weil es keine gesicherten Aufführungsdaten in der elisabethanischen Zeit gibt und das Stück nicht besonders umfangreich ist. Doctor Faustus wurde lange als krönender Abschluss einer kurzen Karriere angesehen, während mittlerweile Edward II oder The Massacre at Paris als sein letztes Stück betrachtet werden. Einige Forscher versuchten der Problematik aus dem Weg zu gehen, indem sie die Werke nach Themen gruppieren, was natürlich genauso beliebig ist, wie die Reihungen nach der angenommenen Entstehungszeit oder die folgende Auflistung.
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- 1587-1588: Amores (Ovid’s Elegies)
- 1587-1588: Pharsalia (Lucan’s First Book)
- 1587-1588: Dido, Queen of Carthage
- 1587-1588: Tamburlaine, Part 1
- 1587-1588: Tamburlaine, Part 2
- 1588-1591: Doctor Faustus
- 1591-1592: The Jew of Malta
- 1592: The Massacre at Paris
- 1592: Edward II
- Sept.-Nov. 1592: Widmung von Watsons Amyntae Gaudia an Mary Herbert
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- Dez. 1592: Epitaph für Sir Roger Manwood
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- 1593: Hero and Leander
Auf diese Liste hat man sich im Laufe der Jahre mehr oder minder geeinigt. Manchmal wird ein Drama infrage gestellt, dafür wird ein anderes zugeschrieben. Feststeht die Autorenschaft von Hero and Leander und The Passionate Shepherd to his Love.
Wenn in Shakespeare in Love der "Produzent" auf Shakespeare zeigt und Philip Henslowe fragt, wer den dieser Mann sein, erhält er die Antwort: "Nobody. The Author."2 Zwar eignet sich dieser Film keineswegs als theaterhistorische Referenz, in diesem Punkt hat er jedoch in zweifacher Hinsicht recht. Im zeitgenössischen Theaterbetrieb zählt der Autor nicht viel, weil er meist vom Regisseur als Hindernis bei der eigenen Selbstverwirklichung betrachtet wird. Im elisabethanischen Theaterbetrieb war der Dramatiker eine Art Angestellter der Schauspieltruppen. Die Werke, die er ablieferte, gehörten nicht ihm, sondern der Truppe, die ihn dafür bezahlte und die damit so viel Gewinn wie möglich erwirtschaften wollte.3 Von der Vorstellung, dass Marlowe (und nahezu alle seine Zeitgenossen) jedes einzelne Wort in "ihren" Werken tatsächlich selbst verfasst haben, müssen wir uns ganz schnell verabschieden – und das nicht nur, weil es alleine von Doctor Faustus zwei sehr unterschiedliche Versionen gibt oder die Fassung, die von The Massacre at Paris existiert, eindeutig korrumpiert ist.4 Bereits in den 1970er Jahren ging G. E. Bentley davon aus, dass etwa ein Drittel der im Henslowe Diary erwähnten Dramen von mehr als einem Autor geschrieben worden waren.5 Geistiges Eigentum, Individualismus, Integrität des Kunstwerks – all das war für den elisabethanischen Dramatiker nicht nur unbedeutend, er kannte es gar nicht. Jeffrey Masten hat einige Punkte zusammengefasst, die gut demonstrieren, wie unterschiedliche die Herangehensweise der Elisabethaner war und warum wir uns gegenwärtig so schwer damit tun.6
- Imitation (vor allem der Klassiker) hatte pädagogisch einen höheren Stellenwert als Originalität.
- Es gab eine rhetorische Grammatik für die Reproduktion und Verbreitung eines Stils, der im Idealfall nicht individuell sein sollte.
- Die Praxis der Handschrift zielte auf ein einheitliches Schriftbild, das Differenzierungen nur schwer erlaubt.
- Innerhalb bestimmter Identifikationen von Klasse, Nationalität oder Rasse wurden Ähnlichkeit und Kontinuität gegenüber der Individualität im heutigen Sinn betont.
- Ein Umgang mit dem, was wir "Quellenmaterial" bezeichnen, bei dem unsere Vorstellung von geistigem Eigentum keine Rolle spielte.
- Ein Theaterbetrieb, wo ein kontinuierliches Überarbeiten, Kürzen und Hinzufügen von Dramentexten entweder durch den "ursprünglichen" Verfasser oder andere alltäglich war.
Die Quellenlage verrät uns, dass Marlowes Dramen finanziell eine gute Investition und sehr populär waren. Er war wohl der bedeutendste Dramatiker seiner Zeit. Aber als Marlowe plötzlich starb, gab es offenbar keinen Aufschrei, keine kollektive Trauer in der Theaterwelt, keinen dramatischen Nachruf, keine bewegende Lebensbeschreibung – warum auch.
"Denn Marlowe ist nichts Besonderes. Dramen gelten als Alltagsunterhaltung, vergleichbar mit unseren Fernseh-Serien. (Nennen Sie mal den Drehbuchautor der 273. "Tatort"-Folge. Na eben… Und die elisabethanischen Engländer hätten über solche Notwendigen, die aber doch Unbekannte sind, Biografien schreiben sollen?)"7
Tamburlaine, Faustus und Barabas wurden mit Edward Alleyn in Verbindung gebracht. Vermutlich wusste kaum jemand außerhalb des Theaters, wer diese Figuren geschaffen hatte.8 So wie sie von außen betrachtet wurden, betrachteten sich die Dramatiker selbst. Dramenschreiben war ein Brotberuf, keine Kunst. Literarische Anerkennung lag in der Lyrik. Daher ist die Zuschreibung dieser Werke ungleich einfacher. Denn Christopher Marlowe, der Lyriker wurde von der Dichterschaft sehr wohl betrauert.9
"Constructing Christopher Marlowe"10 trifft nicht nur auf die Biografie zu. Wir haben es zumindest bei den Dramen auch mit einem "konstruierten" Textkörper zu tun, von dem niemand eindeutig belegen kann, wo Marlowe aufhört und ein anderer Autor beginnt. Wenn ich daher heute ob einer Textstelle oder eine Szene die Genialität Marlowes bewundere, geschieht dies im Bewusstsein, dass gerade diese Stelle gar nicht von ihm sein könnte. Genauso eine Konstrukt ist gleichfalls die Interpretation von Marlowes Werken. Ein und der selbe Text scheint gänzlich widersprüchliche Interpretationen zu gestatten. Ein geniales Beispiel dafür ist die Todesszene von Edward II.. Diese Doppeldeutigkeit,11 die man nicht nur bei Marlowe, sondern bei etlichen seiner Zeitgenossen findet, könnte ein Resultat der Zensurgesetze in den 1590er Jahre gewesen sein. Subversive Themen flossen über Umwege in die Werke ein, die von einem mannigfaltigen Publikum unterschiedlich aufgenommen werden konnten.12