Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Christopher Marlowes Leben ist zu einem überwiegenden Teil eine Negation all dessen, was man über ihn zu wissen meint. Dabei existieren eine Menge Dokumente, die Aufschluss über das Leben Marlowes geben. Die Schwierigkeit liegt also nicht im Fehlen von Materialien, sondern in der Art der Informationen, die sie enthalten und wie seit ihrer Entdeckung damit umgegangen wird.
Will eine Biografie über Christopher Marlowe mehr als nur Daten und Fakten aufzählen, so müssen manchmal eigene Hypothesen entworfen werden, weil einige Quellen eher Fragen als Antworten bieten und gerade bei den interessanten Aspekten etwaige Dokumente nicht mehr existieren. Doch egal wie plausibel und realistisch einem seine Annahmen vorkommen, es bleiben Theorien. Marlowes Atheismus, Homosexualität oder Geheimdiensttätigkeit sind nur einige von diesen Thesen, die – weil sie laut genug propagiert wurden – irgendwann den unverdienten Status des Faktums erreichten. Über dem Leben von Marlowe liegt etwas Rätselhaftes, für das es nach so vielen Jahren wohl keine Lösung mehr gibt. Sich auf Marlowe einzulassen, bedeutet damit umgehen zu können, dass es auf etliche Fragen keine Antworten gibt.
Familie
Schon zu Marlowes Lebzeiten gab es mehrere Möglichkeiten der Schreibweise seines Nachnamens. Marlowes Vater verwendete "Marley" oder "Marle". In Cambridge war es "Marlin". Für seine Zeitgenossen war er meistens "Marley". (So lautet auch die einzig existierende Unterschrift von seiner Hand.) Erschwerend kommt hinzu, dass der Name in der Grafschaft Kent in sämtlichen Variationen häufig vorkam. Das führte seit jeher zu einigen Verwirrungen. Wiederholt wurde der 1540 in Canterbury verstorbene Gerber Christopher Marley als Marlowes Großvater bezeichnet. Tatsächlich konnte zwischen diesen Marleys und Marlowes Familie nie eine Verbindung nachgewiesen werden. Christopher Marlowes Wurzeln dürften in Ospringe und Dover liegen. 1543 wurde ein George Marley aus dem Dorf Ospringe nahe Faversham wegen Beleidigung angeklagt – wahrscheinlich Marlowes Großvater. Sein Vater John nannte als Geburtsort jedenfalls Ospringe. Als Geburtsjahr nimmt man 1536 an. 1559 ließ der Schuster Gerard Richardson bei der Stadtverwaltung von Canterbury John Marlowe als Lehrling eintragen. Anfang der 60er Jahre wurde Marlowe ein Mitglied der Gemeinde von St. George. Die Lehrzeit dürfte nur zwei Jahre betragen haben, was nahelegt, dass es sich dabei lediglich um einen Vorwand gehandelt haben dürfte, damit er ein Handwerk, das er schon erlernt hatte, bevor er nach Canterbury gekommen war, offiziell ausüben konnte. Bereits im Mai 1561 hatte er geheiratet. Katherine Arthur kam aus Dover. Ihre Familie schien im Stadtteil St. James gewohnt zu haben.1 1558 verstarb ein William Arthur aus Dover, der bei einigen Bewohnern von Canterbury Schulden hatte, zu denen Thomas Applegate gehörte. Sein Sohn Laurence war ein Freund von John Marlowe. Bei diesem William Arthur könnte es sich um Katherines Großvater gehandelt haben. Ihr Bruder Thomas zog später jedenfalls auch nach Canterbury.2
Zwar war John Marlowe bereits 1564 freeman, zu Reichtum gelangte er aber nie. Er hatte stets Schulden, beglich seine Rechnungen nicht und kam geschäftlichen Verpflichtungen nicht nach. Außerdem lag er gerne mit seinen Nachbarn und seinen Vermietern im Rechtsstreit, da er nur ungern Miete bezahlte. Vermutlich ein Grund weshalb die Marlowes öfters umzogen. Er dürfte aber auch ein geselliger, hilfsbereiter und nicht unbeliebter Bürger gewesen sein, der etwas von seinem Handwerk verstand. Des Öfteren bezeugte er Dokumente mit seiner Unterschrift, war Lederinspektor und übernahm einige kleinere Aufgaben in der Gemeinde. Als er 1605 starb, hinterließ er alles seiner Ehefrau. Katherine hatte sicher kein leichtes Leben mit ihrem Gatten gehabt, in ihrem Testament jedoch verfügte sie, man möge sie am Friedhof von St. George nahe bei John Marlowe beerdigen.3 Aus der Ehe zwischen John und Katherine gingen neun Kinder hervor, von denen Christopher das zweite war. Das Taufregister von St. George verzeichnet für den 26. Februar 1564 seine Taufe.
Drei seiner Geschwister starben im Kindesalter, die restlichen fünf überlebten ihn, wie seine Eltern. Es ist nicht bekannt, dass Marlowe jemals Nachwuchs in die Welt gesetzt hätte. Ob es heute noch Nachkommen aus seiner Familie gibt, lässt sich kaum mehr feststellen. Die Familie seines Onkels Thomas Arthur wurde 1593 höchstwahrscheinlich ein Opfer der Pest. Marlowes Schwester Margaret heiratete 1590 den Schneider John Jordan, mit dem sie einige Kinder hatte. Da der Name Jordan häufig vorkam, gelten lediglich John, Elizabeth und William, die in Katherine Marlowes Testament erwähnt werden, als gesichert. Janes Mann John Moore war vermutlich ein Bruder von Ursula Moore, der Frau von Thomas Arthur. Jane starb 1583 wohl an den Folgen der Geburt ihres Sohns, der ebenfalls nicht lange überlebte. Anne gab, bereits schwanger, 1593 John Cranford, einem ehemaligen Lehrling ihres Vaters das Jawort. Sie brachte insgesamt zwölf Kinder zur Welt, wovon einige sicher später heirateten und ihr eine große Anzahl an Enkeln bescherten, an denen sie sich bis zu ihrem Tod im Dezember 1652 erfreuen konnte. Im Laufe ihres Lebens geriet sie nicht nur zwei Mal mit dem Gesetz in Konflikt. 1626 und 1627 ging sie jeweils schwer bewaffnet auf einen gewissen William Prowde los. 1603 bezeichneten sie die Kirchenvorsteher von St. Mary Breadman als eine arglistige, streitsüchtige, lieblose Person, die für ihre Nachbarn ein Ärgernis und außerdem eine finstere Beschwörerin und Blasphemistin sei. Dorothys Mann Thomas Graddell, den sie 1594 geheiratete hatte, war ein Quell ständigen Ärgernisses für die Gerichte in Canterbury. Zeitweise war er sogar exkommuniziert. Sowohl 1595 als auch im Jahr darauf wurden er und seine Gattin angeklagt, weil sie sich weigerte, in die Kirche zu gehen und die Kommunion zu empfangen. Ihre beiden Söhne hörten auf den Namen John, wovon zumindest einer ein Kind hatte. Nach dem Tod ihres Gatten 1625, war Dorothy noch immer eine gute Partie, denn mehrerer Freier scharten sich um sie. Es ist gut möglich, dass sie wieder geheiratet hat. Nur einer von Marlowes Brüdern überlebte das Säuglingsalter. (Es war übrigens das einzige der Marlowe-Kinder, das nicht in St. George, sondern in St. Andrew getauft worden war.) Im Testament seiner Mutter ist Thomas nicht erwähnt – vielleicht starb er vor 1605. Oder hatte beizeiten der Familie den Rücken gekehrt, denn 1624 kam ein Thomas Marloe mit dem Schiff Jonathan in Virginia an.4
King’s School
Zu Weihnachten 1578 wurde Marlowe in der King’s School aufgenommen. Sie war 1541 von Henry VIII. in Canterbury gegründet worden. Zwei Dinge sind dabei nach wie vor unklar: Welche Schule hatte Marlowe vor seinem Eintritt besucht und wie konnte sich seine Familie das Schulgeld leisten, das immerhin 4 Pfund betrug? Auf die erste Frage gibt es nach wie vor keine Antwort. Bei der Beantwortung der zweiten ist man auf Vermutungen angewiesen. Vielleicht zahlte eine uns heute unbekannter Wohltäter das Schulgeld. Christopher Marlowe war in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Etliche Söhne armer Leute besuchten die Schule.5 Als ein möglicher Förderer wird Sir Roger Manwood gehandelt.6
Jedenfalls erfolgte sein Eintritt recht spät, denn laut den Statuten der King’s School wurden keine Buben über fünfzehn aufgenommen.7 Marlowe blieb nicht lange, da er ein Stipendium für Cambridge erhielt.
Studium in Cambridge
Matthew Parker hatte 1548 erstmals ein Stipendium ins Leben gerufen, das begabten Söhnen armer Familien ein Studium in Cambridge ermöglichte. Bis zu Parkers Tod 1575 waren weiter Stipendien gefolgt. Sein Sohn, John, übernahm nach dem Tod seines Vaters die Vergabe der Geldbeihilfen. Was genau Christopher Marlowe getan hatte, um in den Genuss eines Stipendiums zu kommen, ist nicht mehr nachvollziehbar. Gedacht war es das Stipendium jeden Fall für junge Männer, die in den Dienst der Anglikanischen Kirche treten wollten, denn Parker hatte nicht nur seinen Stipendiaten die Theologie auf akademischen Niveau näher bringen, sondern vorrangig dringend benötigte Gemeindepriester ausbilden lassen wollen.8 Von den 76, die zwischen 1577 und 1584 ein Stipendium erhalten hatten, machten 69 ihren Abschluss, von denen 44 danach in den geistlichen Stand eintraten.9 Christopher Pashley, Marlowes Vorgänger als Stipendiat, wurde Prediger und schlug genau die Karriere ein, die allgemein erwartet wurde.10 Doch nicht nur Marlowe, auch einige seiner Kommilitonen sollten später von sich reden machen. Der Walliser John Penry wurde ein glühender Puritaner und ein vermuteter Verfasser der Marprelate-Pamphlete. Auch John Greenwood war ein puritanischer Gegner der englischen Kirche und leugnete die kirchliche Vormachtstellung der Königin. Er verbrachte fast sieben Jahre im Gefängnis, bevor er im April 1593 hingerichtet wurde. Nicholas Faunt stammte ebenfalls aus Canterbury und besuchte zunächst das Caius College, bevor er als Parker Stipendiat an das Corpus Christi wechselte. 1587 wurde er Sekretär von Francis Walsingham, eine Position, die er bis zu dessen Tod innehatte. Marlowe hätte diesen Männern während seiner Studienzeit begegnen können.(Kuriyama 2001) Ob es sich tatsächlich so verhielt oder Marlowe nach seinem Abschluss Kontakt zu ehemaligen Studienkollegen pflegte, ist nicht bekannt. Bedenkt man das Bild, das puritanische Schriften von Marlowe nach dessen Tod präsentierten, ist eine freundschaftliche Verbindung mit den Puritanern zweifelhaft.
Als Marlowe nach Cambridge an Corpus Christi College kam, war er schon siebzehn, also um gut drei Jahre älter als der durchschnittliche Studienanfänger. Er erreichte die Universität im Dezember 1580. Ab dem 27. März 1581 wurde "Christoferus Marlen" als immatrikulierter Student geführt.11 Er war ein Studierender zweiter Klasse, d. h. er stand über den Kommilitonen, die für ihr Studium als Dienstboten arbeiten mussten, aber unter denen, deren Familien das Studiengeld selbst bezahlen konnten.12 Im Zuge seines Stipendiums bekam Marlowe für jede Woche, die er im College wohnte 1 Shilling. Im Fall seine Abwesenheit wurde das Geld einbehalten. Mit Hilfe der Rechnungsbücher und des Vorratsbuchs von Corpus Christi lässt sich Marlowes tatsächlich Anwesenheit rekonstruieren. Bis zu seinem BA, fehlte Marlowe nur zweimal für längere Zeit. Im zweiten Quartal 1582 war er fünf Wochen, im ersten Quartal sechs Wochen abwesend. Mitte Februar 1585 machte "Christofer Marlyn" seinen BA, wobei die formelle und zeremonielle Anerkennung wohl erst am Palmsonntag stattfand.13 Ab dem Frühjahr 1585 verließ er wiederholt längere Zeit das College. Für das Studienjahr 1584/85 erhielt Marlowe insgesamt nur 19 Shilling 6 Pence statt der vollen Summe von 2 Pfund 13 Shilling, gab laut dem Vorratsbuch des Colleges allerdings mehr aus. Im November war er nachweislich in Canterbury, wo er gemeinsam mit seinem Vater und seinem Onkel das Testament der Witwe Katherine Benchkin bezeugte. Auf diesem Dokument befindet sich die mittlerweile einzig existierende Unterschrift Marlowes.
Zwischen April und Juni 1586 verließ Marlowe Cambridge erneut. Anfang des folgenden Jahres fehlte er wieder für etwa acht Wochen. Im April 1587 endete sein Stipendium. Irgendwann vor Ende der Studienzeit ersuchte Marlowe um seine Zulassung zum MA. Dem wurde allerdings von Seiten der Universität erst entsprochen, als von hoher Stelle ein Schreiben erhielt. Das Original ist nicht mehr erhalten, es befindet sich jedoch eine Abschrift in den Protokollen des Privy Councils, datiert vom 9. Juli 1587. In Anwesenheit von Erzbischof John Whitgift, Lordkanzler Sir Christopher Hatton, Schatzmeister William Cecil, Lord Burghley, Kammerherrn Henry Carey, Lord Hunsdon und dem Rechnungsprüfer Sir James Crofts wurde folgende Anweisung für Cambridge aufgesetzt:
"Whereas it was reported that Christopher Morley was determined to have gone beyond the seas to Reams and there to remain, their Lordships thought good to certify that he had no such intent, but that in all his actions he had behaved himself orderly and discretely, whereby he had done Her Majesty good service, & deserved to be rewarded for his faithful dealing. Their Lordships' request was that the rumour thereof should be allayed by all possible means, and that he should be furthered in the degree he was to take this next Commencement, because it was not Her Majesty’s pleasure that anyone employed, as he had been, in matters touching the benefit of his country, should be defamed by those that are ignorant in th’affairs he went about."14
Das Katholische Seminar verfügte über gute Verbindungen zu Cambridge, von wo regelmäßig Studenten abwanderten. Nach 1580 nahm ihre Zahl zu und erreichte ihren Höhepunkt 1587. Die Autoritäten an der Universität waren sich dessen bewusst und besonders wachsam. Ein Student, der sich ohne Erlaubnis für mehrere Monate entfernte, war somit automatisch verdächtig.15 Darüber hinaus bewegten sich die Stipendiaten in Cambridge auf engem Raum und waren wahrscheinlich eine geschlossene Gesellschaft, in der verleumderische Gerüchte leicht entstehen konnten.16
Marlowes Anwesenheit in Reims wurde von den Biografen lange Zeit vermutet, aus den Aufzeichnungen ist jedoch ersichtlich, dass Marlowe nie im Katholischen Seminar war.17
Dieses Schriftstück gilt als ein Beleg der Tätigkeit Marlowes für den Geheimdienst. Dabei wird meist außer Acht gelassen, dass die heutige Definition von "Geheimagent" wenig mit der des 16. Jahrhunderts zu tun hat. Letztlich bestätigt das Schreiben an die Universität lediglich, Marlowe habe seiner Königin in Angelegenheiten, die das Wohl des Landes betrafen, einen guten Dienst erwiesen. Das taten viele andere vor und nach ihm, ohne deshalb gleich Spion gewesen zu sein.
Jedenfalls erhielt Marlowe im Juli 1587 seinen MA und verließ die Universität wahrscheinlich Richtung London.
London
Marlowes Gründe für einen Umzug nach London sind uns so unbekannt wie sein genaues Ankunftsdatum oder sein Wohnsitz. Vermutlich irgendwann zwischen Herbst 1587 und Frühling 1588 erlebte Tamburlaine seine Uraufführung. "No English dramatist, surely, has ever made a more astounding debut in the professional theatre than Christopher Marlowe with Tamburlaine."18 Auch Dank des Titeldarstellers Edward Alleyn hatte London eine Sensation erlebt, die noch Jahre lang nachwirken sollte.
Marlowes Kontakte in der Hauptstadt konnten partiell rekonstruiert werden. Er war mit Thomas Watson und Thomas Nashe befreundet. Teilte sich eine Zeitlang einen Arbeitsraum mit Thomas Kyd und erregte eventuell den Unmut von Robert Greene. Das könnte zur Annahme verleiten, Marlowe hätte hauptsächlich mit Schriftstellern verkehrt. Das mag so gewesen sein. Die Renaissance war erstmals die Zeit der Jugend. Bis zur Romantik sollte es keine Ära mehr geben, in der kulturelle, geistige und politische Strömungen so stark von jungen Menschen getragen wurden. Man erforschte begeistert die neuen Welten, die sich vor einem auftaten und genoss lebensgierig die Gegenwart. Denn ähnlich den Romantikern endete die Jugend früh und – wie das Schicksal von Sidney, Greene, Marlowe oder Nashe zeigte – meist tödlich. Aus der Freude am Jungsein entstand zum ersten Mal vielleicht so etwas wie eine Bohème.19 Was es bestimmt nicht gab, ist die so häufig propagierte Schule der Nacht.
Der Kampf der Literaten
Nur weil viel über das elisabethanische Theater geschrieben wird, bedeutete das nicht, dass wir viel darüber wissen. Gerade was die Anfangszeit betrifft, herrscht wenig Licht und große Dunkelheit. Im Laufe der Zeit entstanden Theorien darüber, wie es in der literarischen Welt abseits des Hofs zuging. Glaubt man ihnen, dann war es eine höchst konfliktreiche Periode und Marlowe stand mittendrin. Dank seiner löste das kommerzielle Drama die Lyrik und Prosa als Kommunikationsmedium ab, was die Verdrängung von Robert Greene aus dem literarischen Zentrum zur Folge hatte.20 1 Tamburlaine war Marlowes Bruch mit dem herkömmlichen Theater, wo ordinäre Späße und der Knittelvers regierten. Von nun an bewegte sich das Drama auf einem höheren Niveau.21 Selbst in dieser Erneuerungsbewegung herrschte keine Einigkeit. Den sogenannten "University Wits", Autoren mit Universitätsabschluss wie Marlowe, Thomas Nashe, Robert Greene, George Peele, John Lyly oder Thomas Lodge standen Praktiker wie Henry Chettle, Anthony Munday und William Shakespeare gegenüber.22 Verwunderlich, dass Marlowe bei so viel Feindseligkeit nicht schon früher ein gewaltsamer Tod ereilt hatte! Der umtriebige Robert Greene teilte in der Tat heftige gegen seinen Zeitgenossen aus, nannte sie aber nicht direkt beim Namen. Deren "Identität" beruht fast immer auf Vermutungen, die oft erst Jahrhunderte später aufgestellt worden sind. Die elisabethanischen Autoren verfassten ihre Texte bewusst vage, doppeldeutig, ambivalent und voller Allusionen.23 Viele Wortspiele oder Anspielungen sind für den heutigen Leser unverständlich.
"Whoſoeuer Samela deſcanted of that loue, tolde you a Canterbury tale ; ſome propheticall full mouth that as he were a Coblers eldeſt ſonne, would by the laſte tell where anothers ſhooe wrings, but his ſowterly aime was iuſt leuell;"24
Diese Stelle aus Menaphon könnte auf Marlowe, den ältesten Sohn eines Schusters aus Canterbury hindeuten. Sie könnte aber auch bedeuten, dass Greene an Geoffrey Chaucers Canterbury Tales dachte und sich über seine neuen Schuhe, die ihn furchtbar drückten, ärgerte. Greene dürfte als Dramatiker nicht die Erfolge erzielt haben, die er gewohnt war. Obwohl das Theater sicher an Wichtigkeit gewann, blieben etliche Autoren weiterhin bei Lyrik und Prosa. Diese Genres versanken nicht plötzlich in der Bedeutungslosigkeit. Marlowes 1 Tamburlaine war sensationell, ob das Stück die Erneuerung des englischen Theaters einläutete, ist kaum nachzuweisen, weil aus der Zeit davor gerade einmal zwei Dramen erhalten sind, die nicht aus höfischen Kreisen stammten.25 Die University Wits sind eine willkürlich zusammengestellte Gruppe, die Ende des 19. Jahrhunderts in der Literaturwissenschaft konstruiert worden ist. Gerade das letzte Drittel der elisabethanischen Epoche war für die Literatur eine höchst produktive Zeit. Meinungsverschiedenheiten, persönliche Animositäten, politische und religiöse Debatten wurden teils sogar auf Betreiben der Obrigkeit, wie die Martin Marprelate-Kontroverse, schriftlich ausgetragen. Thomas Nashe stritt jahrelang mit Gabriel Harvey. Das belegt jedoch nicht das posthum geschaffene Bild eines literarischen Kampfschauplatzes mit Richtungsstreit, Erneuerungswellen und Gattungsfragen.
Vor Gericht
Wir wissen nicht, ob Marlowe vom Schreiben leben konnte. Es darf jedoch bezweifelt werden, spätestens seit 2008 Gerichtsakten entdeckt worden sind, die vorrangig über die finanzielle Situation Marlowes am Beginn seiner Zeit in London Aufschluss geben.26 Am 20. August 1587 übernahm ein Christopher Marlowe, bei dem es sich wahrscheinlich um den Dramatiker und Dichter handelte, einen grauen Wallach mit Sattel, Steigbügel und Zaumzeug, die dem Pferde- und Kutschenvermieter James Wheatley gehörten. Vermutlich hatte Marlowe das Tier gemietet und es zum vereinbarten Zeitpunkt nicht an den Besitzer retourniert. Der brachte nämlich im Herbst desselben Jahres Klage ein, wobei er den Wert seines Eigentums auf 6 Pfund 13 Shilling und 4 Pence bezifferte. Darüber hinaus wollte Wheatley noch 20 Pfund Schadenersatz. Zur Verhandlung am 2. Februar 1589 erschien weder Marlowe noch ein von ihm beauftragter Rechtsvertreter. Dadurch hatte der Angeklagte automatisch den Fall verloren. Am 15. Februar bezifferte das Gericht Wheatleys Verlust auf 9 Pfund 6 Shilling und 8 Pence. Marlowe könnte Geld benötigt haben, weshalb er sich vielleicht an einen ehemaligen Kommilitonen aus Cambridge wandte. Jedenfalls borgte Marlowe sich am 21. April 1588 von Elvyn 10 Pfund, die dieser nie wiedersah. Daher verklagte er Marlowe auf Zahlung der geliehenen Summe sowie 5 Pfund Schadenersatz. Marlowe bestritt die Vorwürfe, weshalb für den 2. Februar 1589 eine Verhandlung angesetzt wurde, die vermutlich nie stattfand, da keine weiteren diesbezüglichen Dokumente aufzufinden waren. Wahrscheinlich hatte man sich außergerichtlich geeinigt.27
Theorien laut denen Marlowe 1587 und 1592 als Bote für Lord Burghley28 oder Vorleser für Arbella Stuart fungierte, wurden zwischenzeitlich verworfen. Gesichert ist erst wieder seine Beteiligung am Vorfall in der Hog Lane.
Am 28. September 1589 zwischen 14:00 und 15:00 Uhr kam es in der Hog Lane (heutige Worship Street) zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen Marlowe und William Bradley, dem Sohn eines Gastwirts. Die Gründe dafür dürften in einem Darlehen von 14 Pfund liegen, das Bradley im März des Vorjahres von einem John Allen, vermutlich dem Bruder Edward Alleyns, gewährt worden war, das Bradley allerdings nicht zurückgezahlt hatte. Wahrscheinlich hatte Allen mit der Unterstützung von Freunden seiner Forderung ziemlich Nachdruck verliehen, denn Bradley ließ eine frühe Form der Unterlassungsverfügung gegen John Allen, Hugh Swift und Thomas Watson einbringen.29 Vermutlich hatte Bradley Marlowe in Begleitung von Watson gesehen und es war zum Handgemenge gekommen. Watson versuchte die Streitenden zu trennen. Bradley ließ von Marlowe ab und wandte sich mit den Worten: "Art thou now come? Then I will have a bout with thee."30 Watson zu, verwundete ihn leicht und drängte ihn zu den mit Wasser gefüllten Gräben, die die Straßen säumten. Nun sah sich Watson gezwungen zu wehren und stieß Bradley den Dolch in die rechte Brust. Diese Verletzung war tödlich. Sowohl Watson als auch Marlowe warteten, ohne Widerstand zu leisten, auf die Ankunft des Friedenrichters Sir Owen Hopton, der veranlasste, dass beide unter Bewachung von Constabler Stephen Wyld, im bürgerlichen Leben ein Schneider, ins Newgate Gefängnis gebracht wurden. Aus dem Protokoll geht hervor, dass Watson und Marlowe damals in Norton Folgate wohnten.31 Gemeinsam mit Marlowe saß ein John Poole, der wegen Falschmünzerei angeklagt war, ein. Poole soll damals lautstark einige sehr gefährliche Ansichten unter anderem über den Earl von Leicester vertreten haben. Er beschuldigte ihn nicht nur des Mordes an seiner Frau Amy Robsart, sondern auch der Verschwörung, indem er versucht haben sollte, seinen Sohn mit Arbella Stuart zu verheiraten.32 Inwieweit Marlowe mit Pooles subversiven Theorien sympathisierte bleibt unklar, aber Richard Baines sollte später auf die Verbindung zwischen Poole und Marlowe zu sprechen kommen.
Am 11. Oktober wurde Marlowe gegen eine Kaution von 40 Pfund freigelassen. Zwei Gewährsmänner bürgten für jeweils 20 Pfund. Richard Kitchen und Humphrey Rowland, standen in keiner Verbindung zu Marlowe und zumindest bei Rowland war es recht unwahrscheinlich, dass er die geforderte Summer tatsächlich aus eigener Tasche bezahlen konnte. Watson verblieb bis zum Prozess am 13. Dezember in Haft. Einer der anwesenden Richter war Sir Roger Manwood. Die Verhandlung endete mit einem Freispruch für Marlowe und Watson, obwohl letzterer noch etliche Wochen in Newgate verbleiben musste.33
Niederlande
Am 5. Februar 1592 schickte Robert Sidney, der Gouverneur von Vlissingen einen Bericht an Lord Burghley.
"Besides the prisoner Evan Flud, I have also given in charge to this bearer my anciant twoe other prisoners, the one named Christofer Marly, by his profession a scholer, and the other Gifford Gilbert a goldsmith taken heer for coining, and their mony I have sent over unto yowr Lo: The matter was revealed unto me the day after it was done, by one Ri: Baines whome also my Anciant shal bring unto yowr Lo: He was theyr chamber fellow and fearing the succes, made me acquainted with all. The men being examined apart never denied anything, onely protesting that what was done was onely to se the Goldsmiths conning: […] they do one accuse another to have bin the inducers of him, and to have intended to practis yt heerafter: […] But howsoever it hapned a dutch shilling was uttred, and els not any peece: and indeed I do not thinck that they wold have uttred many of them: for the mettal is plain peuter and with half an ey to be discovered. […] The scholer sais himself to be very wel known both to the Earle of Northumberland and my lord Strang. Bains and he do also accuse one another of intent to goe to the Ennemy or to Rome, both as they say of malice one to another."34
Die Identität von Evan Flud konnte nicht geklärt werden.35 Über das weitere Schicksal des Goldschmieds Gifford Gilbert ist gleichfalls nichts bekannt. Die Namensgleichheit mit dem Agenten, der einst auf Walsinghams Wunsch Kontakt zu Mary Stuart aufgenommen hatte, scheint ein Zufall zu sein.36 Richard Baines war, je nach Ansicht, ein gescheiterter englischer Spion oder ein abtrünniger Katholik aus dem Katholischen Seminar. Wie er ausgerechnet in Vlissingen auf Marlowe traf, geht aus dem Schreiben leider nicht hervor. Interessanterweise hatte der Vorfall scheinbar kein juristisches Nachspiel. Geldfälschen galt nicht als Kavaliersdelikt, sondern fiel juristisch gesehen unter Verrat und wurde mit dem Tode bestraft. In den Dokumenten findet sich nur eine von Burghley unterzeichnete Zahlungsanweisung an David Lloyd, den Fähnrich Robert Sidneys. Er erhielt 13 Pfund 6 Shillings und 8 Pence für das Überbringen von Briefen und drei Gefangenen.37
Das Sidneys Schreiben sowie das Ausbleiben von Konsequenzen wurden im 20. Jahrhundert als weiterer Beweis für Marlowes Arbeit im Geheimdienst gewertet. Sicher nicht zu recht.
"We think we know, on the basis of the 1587 Privy Council certificate, that Marlowe was a government agent because he had done 'good service' to the queen. But even if this is true, doing the queen good service in 1587 does not mean that Marlowe continued to perform such service in 1592. In fact, many are the men who did good service for the queen only to become suspected, betrayed, and/or despatched by their employer:"38
Falls Marlowe wirklich beide Male undercover tätig war, dann war es beide Male bekannt geworden. Ein guter Geheimagent war er demnach nicht, denn wie der Name schon sagt, erfolgreich ist nur der Agent, dessen Umtriebe geheim bleiben. Viel wichtiger als eventuelle Spionagegeschichten ist der Umstand, dass Marlowe damals bereits auf Richard Baines getroffen war.
London – Canterbury
Burghleys Reaktion auf das Schreiben aus Vlissingen bzw. irgendwelche Konsequenzen für Richard Baines und Marlowe sind nicht bekannt. Spätestens im Mai war er jedenfalls wieder in London, denn am 19. Mai 1592 stand Marlowe erneut vor Richter Hopton. Er musste versichern, dass er in der ersten Woche nach dem 9. Oktober wieder vor Gericht erscheine. Bis dahin habe er sich friedlich zu verhalten, ganz besonders gegenüber Allen Nichols und Nicholas Helliott, zwei Constablern aus der Hollywell Street. Sollte er diesen Anordnungen nicht nachkommen, würden 20 Pfund von seinem Besitz eingezogen werden. Letzteres war eine stehende Phrase, die auch bei Angeklagten verwendet wurde, die nicht einmal annähernd über solch eine Summe verfügen konnten. Den nächsten Gerichtstermin hatte Marlowe in Canterbury. Der Schneider William Corkine erstatte Anzeige, da Marlowe ihn am 25. September in der Gemeinde von St. Andrews mit Knüppel und Dolch attackiert hätte, wodurch ihm ein Schaden in der Höhe von 5 Pfund entstanden sei. Marlowe ließ durch einen Anwalt eine Gegenklage einbringen, die das Gericht allerdings ablehnte. Die Verhandlung wurde für den 19. Oktober angesetzt. Sie fand nie statt, wahrscheinlich hatten sich die Parteien vorher außergerichtlich geeinigt.39
Die Schrift an der Wand
Beruflich war die zweite Hälfte des Jahres 1592 für alle Theaterschaffenden schwierig. Im Juni wurden die Theater geschlossen. Die Zahl der Pesttoten blieb den ganzen Sommer überdurchschnittlich hoch und es durfte erst wieder ab Ende Dezember gespielt werden. Doch schon Anfang 1593 waren die Theater erneut zu. Die Stadt wurde von einer Pestepidemie heimgesucht, was bedeutet, die wöchentliche Zahl der Toten stieg auf über dreißig.40 Wer konnte, kehrte der Metropole den Rücken, so auch Marlowe, der zu Thomas Walsingham nach Scadbury ging.
In dieser ohnehin schon angespannten Situation erschienen einige fremdenfeindliche Pamphlete, die sich hauptsächlich gegen ausländische Handwerker in der Stadt richteten. Obwohl der Immigrantenanteil gering war, galt London nicht als besonders fremdenfreundlich und die Stadtverwaltung hatte kaum etwas unternommen, um die Verfasser ausfindig zu machen.41 In der Nacht zum 15. Mai 1593 brachte ein Unbekannter an der der Mauer des Friedhofs der Dutch Church ein Flugblatt an, das alle vorherigen an Gemeinheit übertraf. Die sogenannte Dutch Church Libel veranlasste den Privy Council rigide Maßnahmen anzuordnen. Londons Verwaltung wurde aufgefordert den Verfasser ausfindig zumachen, dafür sollten umfassende Hausdurchsuchungen und Befragungen, wenn nötig unter Anwendung der Folter, durchgeführt werden. Wahrscheinlich wurde man dabei auf den Dramatiker Thomas Kyd aufmerksam. Jedoch weniger seiner Arbeiten fürs Theater wegen, sondern weil er vermutlich als Schreiber tätig war.42 Bei Kyds Papieren waren drei Blätter gefunden worden, die Auszüge aus einem Werk über den Arianismus enthielten.43 Kyd gab jedoch zu Protokoll, dieses Manuskript hätte er von Marlowe erhalten. (Später erklärte er, er und Marlowe hätten sich zwei Jahre zuvor einen Arbeitsraum geteilt und dabei wären die Blätter mit seinen Papieren vermischt worden.44)
Marlowe dürfte völlig zurecht nie als Verfasser der Dutch Church Libel verdächtigt worden sein.45 Es ist nicht einmal bewiesen, ob Kyds Verhaftung damit im Zusammenhang stand und ob seine Aussage gegen Marlowe irgend eine Auswirkung hatte. Letzteres erscheint möglich, denn am 28. Mai schickte der Privy Council Henry Maunder zu Thomas Walsingham nach Scadbury, um Marlowe an den Hof, der in Nonsuch etwa 19 km südlich von London residierte, zu bringen. Worüber der Privy Council Marlowe am 30. Mai befragte, ist nicht bekannt. Wir wissen heute nur, er wurde mit der Auflage sich täglich zu melden, wieder entlassen. Der Privy Council tagte noch am 2., 4. und 8. Juni. Aus den Aufzeichnungen geht nicht hervor, ob Marlowe der Aufforderung wirklich nachgekommen ist.
Deptford
Jahrhunderte lang war man auf Legenden, Andeutungen und Gerüchte angewiesen, um herauszufinden, was Marlowe überhaupt in Deptford tat. 1920 fand Leslie Hotson dann den Untersuchungsbericht, in dem die Umstände von Marlowes Ableben festgehalten sind.46 Ironischer Weise sind seither noch mehr Spekulationen und Fehlinformationen über diesen Tag in Umlauf als zuvor. Eines ist ganz sicher: Christopher Marlowe starb nicht bei einer Wirtshausrauferei! Laut Bericht trafen am 9. Juni 1593 gegen zehn Uhr vormittags Ingram Frizer, Nicholas Skeres, Robert Poley und Christopher Marlowe im Zimmer eines Hauses, das einer Witwe namens Eleanor Bull gehörte, zusammen. Das respektable Privathaus stand am Deptford Strand und bot mit amtlicher Genehmigung – ähnlich dem heutigen Bed & Breakfast – Gäste gegen Bezahlung Unterkunft und Essen an. Eleanor Bull war eine "[…] woman of substance, well-born and well-connected, not at all the shabby old ale-house keeper she is often portrayed as."47 Die vier Männer nahmen ein Mittagessen ein. Danach spazierten sie ein wenig durch den Garten, bevor sie gegen achtzehn Uhr wieder auf ihr Zimmer gingen, um zu Abend zu essen. Nachdem sie fertig waren, entbrannte zwischen Frizer und Marlowe ein Streit darüber, wer die Rechnung übernehmen solle. Marlowe legte sich auf ein Bett, vor dem ein Tisch stand, an den sich die anderen drei Männer setzten. Frizer saß, flankiert von Poley und Skeres, mit dem Rücken zu Marlowe, der plötzlich Frizers Dolch im Wert von 12 Pence entwendete und Frizer am Kopf zwei Wunden von ca. 5 cm Länge und 0,6 cm Tiefe beibrachte. Eingekeilt zwischen Poley, Skeres, Tisch und Bett versuchte Frizer, der um sein Leben fürchtete, Marlowe den Dolch zu entwenden. So kam es zu einem Handgemenge zwischen Frizer und Marlowe, wobei Frizer mit seinem Dolch Marlowe über dem rechten Auge eine tödliche Wunde zufügte, die 5,08 cm tief und 2,54 cm breit war.48 Auf Grund der vorliegenden Beschreibung, nimmt man an, dass der Dolch über dem Augapfel eindrang und dabei den oberen Augenhöhlenriß an der hinteren Augenhöhle penetrierte. Die Vermutung durch die in die Wunde einströmende Luft wäre eine Emboli entstanden, ist aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich. Vielmehr verletzte die Dolchspitze die innere Halsschlagader, wodurch ein intrakraniales Hämatom eine zerebrale Kompression verursachte.49
Da sich der Vorfall innerhalb eines Radius von 12 Meilen (19,31 km) um die Person der Königin abgespielt hatte, wurde der königliche Leichenbeschauer William Danby, mit der Untersuchung beauftragt. Frizer entzog sich nicht der Verhaftung, sondern gestand zwei Tage später, dass er Marlowe in Notwehr getötet habe. Sechzehn Männer aus Deptford und Umgebung bestätigten als Geschworene Danbys Bericht. Frizer wurde bis zu seiner Verhandlung in Haft genommen. Marlowes Leiche wurde freigegeben und noch am selben Tag am Friedhof von St. Nicholas in Deptford beerdigt. Der Vikar Thomas Macander verzeichnete im Kirchenregister: "Christopher Marlowe slaine by ffrauncis ffrezer"
Ingram Frizer hatte möglicherweise einen Verwandten namens "Francis", was die Verwechslung erklären könnte.50 Macanders Irrtum hinsichtlich des Vornamens, sorgt bis heute für Verwirrung, da es immer noch Literatur gibt, in der Marlowes Mörder Francis Frizer genannt wird. Wo sich Marlowes Grab befunden hat, lässt sich nicht mehr feststellen, da die Kirche etwa hundert Jahre nach seinem Tod umgebaut wurde. Von St. Nicholas, wie es zu Marlowes Zeiten aussah, existiert heute nur mehr der Turm aus dem 14. Jahrhundert.
Die Gedenktafel für Marlowe wurde während des Zweiten Weltkriegs von Bomben zerstört und erst später wieder errichtet.51
Nimmt man den Untersuchungsbericht als gegeben hin, so ist Marlowes Tod zwar tragisch aber nicht mysteriös. Vier Männer verbrachten einen geruhsamen Tag miteinander und als sie sich nicht über die Rechnung einigen konnten, kam es zu einem Handgemenge, in Zuge dessen einer lebensgefährlich verletzt wurde – Pech, Schicksal oder Zufall.
"[…] few murders of literary men have proven so encouraging simultaneously to scholarship and to fiction, or so open to conflicting biographical exegesis."52
Irgend etwas in dieser Geschichte dürfte eine Skepsis hervorrufen, die durch die Biographie von Ingram Frizer, Nicholas Skeres und Robert Poley sowie die Baines Note, die Affaire um die Dutch Church Libel, die Briefe von Thomas Kyd und einige andere Dokumente, seit nunmehr hundert Jahren massiv genährt wird.
"Poe’s death stands alongside Christopher Marlowe’s murder as one of the peculiar and impenetrable mysteries in literary history. Unlike Marlowe, who was actually a spy, Poe’s life was, for the most part, excessively normal, […]."53
Auch Marlowes Leben verlief für seine Zeit Großteils normal, seine Spionagetätigkeit ist bestenfalls eine kühne Behauptung, aber die Umstände seines Todes bleiben, wie bei Edgar Allan Poe, geheimnisvoll. Vielleicht war er wirklich das Opfer eines Auftragsmords,54 oder einer perfiden Intrige im Dunstkreis von Essex, Raleigh und Burghley,55 oder eines Wirtschaftskrimis rund um die Moskauer Kompanie in London,56 oder er hatte Schulden bei Frizer und Skeres57 oder wurde auf Geheiß Elizabeth I. ermordet.58
"What all these conspiracy theses have in common is a reluctance to accept that, as an obscure Elizabethan playwright, Marlowe was highly unlikely to have been of sufficient importance to have attracted the attention of powerful men, let alone the Queen herself."59
Viel wahrscheinlicher ist daher, dass er aus nichtigen Gründen getötet wurde und wir es nicht wahrhaben wollen, weil Genies nicht einfach so beiläufig sterben dürfen. Das gilt für Marlowe wie für Poe. Egal welche Konstellationen tatsächlich zur Ermordung Marlowes führten, sämtliche Informationen, die in mühevoller Arbeit ans Licht gebracht wurden, alle Spekulationen, so plausibel sie auch erscheinen, ändern nichts am Ausgang der Sache. Der Tag in Deptford endete für Christopher Marlowe tödlich. "Tell Kent from me, she has lost her best man […]"60 heißt es bei Shakespeare. Das mag auf die Grafschaft vielleicht nicht zutreffen, aber das Theater verlor an diesem Frühlingstag des Jahres 1593 tatsächlich einen seiner individuellsten, außergewöhnlichsten und brillantesten Männer.
- Urry (13.02.1964)↩︎
- Urry (1988)↩︎
- Urry (1988)↩︎
- Urry (1988)↩︎
- Urry (1988)↩︎
- Wraight and Stern (1993)↩︎
- Honan (2005)↩︎
- Barnes (1981)↩︎
- Ide (2007)↩︎
- Urry (1988)↩︎
- Honan (2005)↩︎
- Nicholl (2002)↩︎
- Urry (1988)↩︎
- Dasent (1897), 140-141↩︎
- Gray (1928)↩︎
- Ide (2007)↩︎
- Nicholl (2002)↩︎
- Birringer (1984), 222↩︎
- Meissner (1952)↩︎
- Bednarz (2004)↩︎
- Nashe (1958); Marlowe (1995); Riggs (2013)↩︎
- Saintsbury (1887)↩︎
- Edwards (1979)↩︎
- Greene (1881-1883), 86↩︎
- Erne (2005)↩︎
- [KB 27/1308, part 1, rot. ccclij]; [NA kb 27/1307, rot. ccxxiijv]↩︎
- Mateer (2008)↩︎
- Feldman (1953); Henderson (12.06.1953)↩︎
- Honan (2005)↩︎
- Kuriyama (2002), 206↩︎
- Urry (1988)↩︎
- Eccles (06.09.1934)↩︎
- Honan (2005)↩︎
- PRO SP 84/44 f.60.r,v↩︎
- (Wernham 1976)↩︎
- Nicholl (2002)↩︎
- PRO E351/542, f.169v↩︎
- Breight (1993), 28↩︎
- Urry (1988)↩︎
- Evans (1989)↩︎
- Freeman (1973)↩︎
- Kuriyama (2002); Owens (2007)↩︎
- BL Harley MS.6848 f.187r-189v↩︎
- BL Harley MS.6849 f.218r-219r↩︎
- Downie (2007)↩︎
- Hotson (1925)↩︎
- Nicholl (2002), 36↩︎
- Hotson (Juli 1926)↩︎
- Rowling (1999); Burgess (2015)↩︎
- Hopkins (2004)↩︎
- Urry (1988)↩︎
- Freeman (1973), 46↩︎
- Pearl (21.05.2006)↩︎
- Greenwood (04.06.1925)↩︎
- Seaton (1929); Nicholl (1992)↩︎
- Wilson (1995)↩︎
- Hammer (1996)↩︎
- Riggs (2013)↩︎
- Downie (2007), 266↩︎
- 2 Henry VI. IV,10,41↩︎